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Roma

© Steidl Verlag

Das Volk der Roma: Der Wind des Lebens

Alte Vorurteile, neues Selbstbild: Wo das Volk der Roma im Europa der offenen Grenzen bleibt.

Am beeindruckendsten sind die Gesichter. So viel Ernst liegt in ihrem Blick, dass jeder sofort sieht: Diese Menschen haben von klein auf die Winde des Lebens zu spüren bekommen. Gesichter wie das von Agapi Kalamioti, dunkel und faltenzerfurcht. Aufmerksam blickt sie in die Kamera, das graue Haar mit einem Tuch bedeckt, den rechten Arm fest um ihre schielende Enkeltochter Marimar gelegt. Gesichter wie das des hübschen Jau mit den aufgesprungenen Lippen und dem vollen schwarzen Schopf, dessen dunkle Augen für einen Grundschuljungen viel zu gefasst dreinschauen. Oder der verhaltene Blick der Familie am staubigen Rande eines transsilvanischen Dorfes: Alle drei scheinen geradewegs einem August-Sander-Foto entstiegen zu sein.

Vor vielen hundert Jahren sind sie als fahrendes Volk nach Europa gekommen und waren hier mit ihren Fertigkeiten als Schmiede und Kesselflicker, Akrobaten und Musiker, Saisonarbeiter und Erntehelfer, Schlangenbeschwörer und wandernde Händler willkommen. Und wo sie nicht willkommen waren, gehörten sie zumindest zum Sozialgefüge. Bis die Situation kippte. Je wichtiger im 19. Jahrhundert der Nationalstaatengedanke wurde und je weiter die Industrialisierung voranschritt, desto heftiger wurden die Roma an den Rand der Gesellschaft gedrängt, zum Inbegriff des „anderen“ erklärt, auf Grundlage des sogenannten Auschwitz-Erlasses von 1942 verfolgt und systematisch in Konzentrationslagern ermordet.

An diese Zeit soll in Berlin ein Mahnmal für die Roma und Sinti erinnern, das nach fünf Jahren der Planung und des Streits mit den Opferverbänden um die richtige Aufschrift ab Februar nun endlich gebaut wird. Als Standort ist ein dem Reichstag benachbartes Grundstück im Tiergarten vorgesehen. Der Entwurf in Gestalt eines Brunnens stammt von dem israelischen Künstler Dani Karavan. Den Brunnenrand wird ein Gedicht des Italieners Santino Spinelli zieren: „Eingefallenes Gesicht/ erloschene Augen/ kalte Lippen/ Stille/ein zerrissenes Herz/ ohne Atem/ ohne Worte/ keine Tränen“.

Am Rand der Gesellschaft befinden sich die Roma bis heute: Zielscheibe mal verdeckter, mal ungezügelter Ressentiments von Rostock bis Rom, und dies zu Zeiten, da die EU-Politiker dabei sind, ein Europa der offenen Grenzen zu schaffen, das sie als Fahrende – und heute mehrheitlich Sesshafte – seit jeher verkörpern. Zweierlei lässt sich daran ablesen: Wie schwer wir uns noch immer damit tun, eine Lebensweise zuzulassen, die sich von der unseren unterscheidet, und wie mühsam es ist, uns wieder in das Leben einer mobilen, offenen europäischen Gesellschaft hineinzufinden, wie es in der Renaissance, zu Zeiten des Klassizismus, ja selbst vor dem Ersten Weltkrieg noch selbstverständlich war.

Dass Intoleranz vor allem von Unwissenheit kommt, das wird sowohl aus Joakim Eskildsens und Cia Rinnes prachtvollem Band „Die Romareisen“ wie aus Karl-Markus Gauß’ luzidem Reisebericht „Die Hundeesser von Svinia“ deutlich. Beide Bücher erzählen von Welten, die nur einen Steinschlag weit weg zu finden sind und uns doch fern scheinen wie ein entlegener Kontinent. Sieben Jahre lang, zwischen 2000 und 2006, sind der dänische Fotograf Eskildsen und die schwedische Autorin Rinne kreuz und quer durch Europa gefahren, um das Leben der Roma kennenzulernen, wo immer es möglich war eine Zeitlang mit ihnen zu leben und ihre Geschichte zurückzuverfolgen bis hin zu den Ursprüngen in Indien und ihrem Weg nach Europa via Persien und Byzanz. Ergebnis ihrer Erkundungstour ist ein mit Liebe komponierter Atlas des europäischen Romalebens in Finnland und Frankreich, Russland und Rumänien: ein Atlas, der es verdienen würde, zum schönsten Buch des Jahres gekürt zu werden, mit Panoramabildern von Ursituationen des menschlichen Daseins, die nur aus der Nähe des Zusammenlebens heraus entstehen konnten, ein Geschichtenbuch ohne Versuche, etwas zu beschönigen.

Die Situation, die Cia Rinne und Karl-Markus Gauß beschreiben, ist immer die gleiche: Die Berufe, die die Roma über Jahrhunderte ausgeübt haben, sind in unserer durchrationalisierten Gesellschaft nicht mehr gefragt. Als Arbeitskräfte überflüssig, auf staatliche Unterstützung angewiesen, in Sozialbauten und Bruchbuden abgeschoben und mit Vorurteilen konfrontiert, haben die Roma kaum eine Chance, aus der Falle von Arbeitslosigkeit, Selbstverachtung, Apathie und Verwahrlosung wieder herauszukommen.

Eine ganze Bevölkerungsgruppe, die bis dahin Teil des öffentlichen und ökonomischen Lebens war, findet sich hinter unsichtbaren Mauern wieder und existiert gleichsam nicht mehr. Oder wie Karl-Markus Gauß es am Beispiel des im slowakischen Košice gelegenen Zigeunerghettos Lunik IX beschreibt: „Das Wesentliche an einem Slum ist nicht die Armut, nicht die Gewalt, nicht die Arbeitslosigkeit, nicht der Verfall. Das Wesentliche eines Slums ist seine Unsichtbarkeit. Der Slum ist nebenan, aber man sieht ihn nicht. Lunik IX ist mit dem Auto vom Stadtzentrum in zehn Minuten zu erreichen und bildet die Endstation eines städtischen Linienbusses. Nie aber ist jemand dort aus- oder zugestiegen, der nicht ein Bewohner des Ghettos gewesen oder als Sozialarbeiter dorthin gekommen wäre, und was die Leute über dieses Viertel ihrer eigenen Stadt zu erzählen wissen, haben sie immer nur von jemandem gehört, der es meistens auch nicht aus erster Hand wusste.“ So entstehen Vorurteile und Klischees.

Natürlich gibt es Gegenbeispiele. Wie die Prager Sängerin Ida Kelarová, selbst halb Tschechin, halb Roma, die vor Jahren schon ihr eigenes Hilfsprogramm für Romafamilien in der Ostslowakei gestartet hat und regelmäßig jene gottvergessenen „Orte der Verdammnis“ wie Jarovnice, Hermanovce oder Rudnany aufsucht, die Karl-Markus Gauß als „Vorhölle auf Erden“ beschreibt. Über Ida Kelarovás Musik und ihre zupackende Art zu helfen haben Jana Cisar und Stephan Settele 2003 den Dokumentarfilm „Gilaven! Sing!“ gedreht.

Von unterschiedlichsten Seiten gibt es Versuche, die Lage der Roma zu verbessern (und die der Sinti selbstverständlich auch). Das Problem ist: „Wer Menschen immer nur in ihrem Elend zeigt, reduziert sie auf dieses, im besten Falle macht er aus ihnen ewige Opfer, die er nur als Opfer erträgt und denen er keine anderen Eigenschaften zubilligt als eben die, die sie zum Opfer prädestinieren.“ Mit diesen Worten lässt Karl-Markus Gauß Krístina Magdolenová von der „Roma Press Agency“ in Košice zu Wort kommen. Sie benennt etwas Entscheidendes: Solange der „dauernde Beschuss mit Sensationen, mit Schreckensbildern und Elendsgeschichten nicht aufhört“ und über Roma berichtet wird, „als würden sie allesamt arm, krank, unwissend sein“, so lange werden die unterdrückten Aggressionen fortdauern. So lange werden Roma, denen es gelungen ist, sich eine Existenz aufzubauen, ihre Herkunft verschweigen oder aber wie die Gypsy Brass Band „Fanfare Ciocarlia“, wie die Schriftsteller Jovan Nikolic oder Tamás Jónás dagegen kämpfen müssen, ausschließlich als Zigeuner betrachtet zu werden.

An diesem Punkt setzt nun eine neue Generation von Roma an, die an einem positiven Gegenentwurf arbeiten. Wie die 1975 geborene Kuratorin und Kunsthistorikerin Tímea Junghaus es formuliert: „Mit dem Heranwachsen einer neuen Generation intellektueller Roma beobachten wir die Geburt eines ‚Roma-Bewusstseins‘, einen Zustand, wenn erfolgreiche, wohlhabende und gut ausgebildete Roma stolz ihre Herkunft anerkennen und nicht nach Assimilation streben und dabei ihre kulturelle Herkunft auslöschen.“

Tímea Junghaus hat vorgemacht, wie das geht: Sie hat auf der 52. Biennale im Sommer 2007 in Venedig den vielbeachteten ersten transnationalen Roma-Pavillon „Paradise Lost“ kuratiert und den Romabildern, die wir tagtäglich in den Medien vorgeführt bekommen, ganz einfach Kunst entgegengesetzt. Ein Unternehmen, für das Tímea Junghaus in zwei Wochen mit dem Kairos-Preis der Alfred- Töpfer-Stiftung ausgezeichnet wird.

Siehe auch Seite 10.

Katharina Narbutovic

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