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Aufstand der Jugend. Leonard Scheicher als Abiturient Theo.

©  Studiocanal

„Das schweigende Klassenzimmer“ im Kino: Der Westen ruft

Stalinstadt, 1956. In Lars Kraumes Drama „Das schweigende Klassenzimmer“ leistet eine ganze Abiturklasse Widerstand gegen die DDR-Staatsmacht.

Auf der Berlinale, wo „Das schweigende Klassenzimmer“ Weltpremiere hatte, erregte Lars Kraumes Geschichtsfilm verschiedentlich Missvergnügen. Optisch und semantisch zu glatt, zu naiv breitwandig, lautete der Tenor. Das liegt wohl auch daran, dass die dem Film zugrunde liegende Geschichte in der Tat sehr einfach ist: Eine ganze ostdeutsche Abiturklasse verweigert der DDR-Staatsmacht 1956 den Gehorsam und flieht in den Westen.

Das Heldenhafte an dieser Flucht bei damals noch offenen Grenzen scheint heute manchem vielleicht fragwürdig: Ja, wenn sie nach Sibirien geflohen wären, aber in den Westen? Wollten da nicht ohnehin alle hin? Aber doch nicht in den Weihnachtstagen, als unbegleitete minderjährige Geflüchtete, ließe sich einwenden. Und vor allem: eher mit Abitur statt ohne. Trotzdem bleibt der Kern der Geschichte stark: Es geht um die Frage, wann der Mensch es sich schuldig ist, dem Ruf seines Gewissens zu folgen, selbst wenn die Entscheidung fast all seinen Interessen ins Gesicht schlägt.

Ein Film voller Ambivalenzen

Theo (Leonard Scheicher), Kurt (Tom Gramenz) und die ihre Mitschüler geben dieser brandenburgischen Abiturklasse von 1956 alle Ambivalenz der Jugend. Ihre Schweigeminute für die aufständischen Ungarn mitten im Geschichtsunterricht ist sowohl eine pubertäre Kraftgeste als auch ein Akt aufrichtiger Solidarisierung. Das anfangs fast Ununterscheidbare muss jeder Schüler nun für sich austragen, darin liegt das cinematografische Temperament des Stoffes.

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Man sollte sich nicht täuschen lassen: „Das schweigende Klassenzimmer“ ist wie seine Figuren voller Ambivalenzen. Kraume interessiert nicht ein Film, in dem die freiheitlich-demokratische Gesinnung über die böse Diktatur siegt, es geht nicht ums Rechthaben. Das Kino ist eine geborene Parteigängerin des Lebens. Kraume will auf andere Weise als in seinem letzten Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ wissen, was und wie da etwas wieder anfing nach dem Weltende 1945, auf doppelte Weise: in Ost und West. „Der Glaube und die Hoffnung, dass der Sozialismus die überlegene Gesellschaftsform gegenüber dem Kapitalismus sein würde, war sehr berechtigt“, sagt Kraume. Ungewöhnliche Worte, heute. Florian Lukas als junger Schuldirektor aus bildungsfernstem Elternhaus ist wunderbar als Inkarnation dieser trügerischen Hoffnung. Denn dass die Russen im Osten noch die letzte Schraube abmontierten und mitnahmen, während im Westen eine Konsumwelt erblühte, die es wiederum ohne „die Gefahr des Kommunismus“ nie gegeben hätte, ließ dem Experiment von vornherein keine Chance. Das ist der doppelte Boden, im Film wie in der Wirklichkeit.

Kraume verlegt den Schauplatz von Storkow nach Stalinstadt, dem heutigen Eisenhüttenstadt. „Diese Planstadt war 1956 sehr modern, großzügig angelegt als Arbeiterstadt“, erklärt Kraume seine Entscheidung. Sie habe Annehmlichkeiten geboten, „von denen man im Ruhrpott nur träumen konnte“. Nein, leicht hat er es sich nicht gemacht. Leider sieht man das nicht immer. Gleich in der ersten Einstellung fährt der Zonen-Zug aus Stalinstadt bis fast in den „freien Westen“. Es wirkt, noch bevor der Film beginnt, wie finale Entlarvung.

In 12 Berliner Kinos

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