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Kultur: Das private Adressbuch von Paul Hindemith führt in die 20er und 30er Jahre

Das private Adressbuch von Paul Hindemith als Nachdruck - was kann daran interessant sein? Eine Freude für Eingeweihte, gewiss, eine "trouvaille", so sagt man in Fachkreisen, aber mehr?

Das private Adressbuch von Paul Hindemith als Nachdruck - was kann daran interessant sein? Eine Freude für Eingeweihte, gewiss, eine "trouvaille", so sagt man in Fachkreisen, aber mehr? Alles längst vergangen und vorbei. Die Namen und Adressen berühmter Künstlerfreunde: Telefonnummern von Brecht und Benn, Adressen von Einstein, Furtwängler und Zuckmayer. Für Autogrammjäger alles viel zu spät. Dann beginnt man zu blättern, in diesem zwölf mal achtzehn Zentimeter kleinen, ursprünglich in rotes Leinen gebundenen Ding, folgt, neugieriger schon, den kundigen Worten der Herausgeberinnen, entziffert die Hieroglyphen einer versunkenen Welt. Und sieht die einhundert Seiten Nachdruck, gefärbt und auf glattes Fotopapier gebracht, auf einmal in ganz anderem Licht.

Geschichten aus einer vergangenen Zeit, Treffpunkt Westend, 1927 bis 1938. Der "Erzähler": Paul Hindemith, Komponist und Bratschist. Anfang 1927 von Frankfurt nach Berlin gekommen. Dem Zug der Zeit folgend, aber auch seiner Berufung zum Professor an der Berliner Musikhochschule. Hindemith war damals "einer der bekanntesten und erfolgreichsten zeitgenössischen Komponisten Deutschlands", bemerkt Susanne Schaal in ihrer Einleitung, "um 1930 steht Hindemith als Komponist, Solist, Kammermusiker und Pädagoge auf dem Höhepunkt seiner bisherigen Karriere". Er sucht sich eine Wohnung am Sachsenplatz 1 in Westend, lebt dort von 1928 bis zu seiner Emigration, zehn Jahre später. Eine Gedenktafel am heutigen Brixplatz erinnert daran.

Viele der Eintragungen im Adressbuch beziehen sich auf diese Gegend. Nachbarn, Geschäfte, Kneipen, Restaurants - alles wurde zunächst eingetragen, um sich zu orientieren. Auf 150 alphabetisch geordneten Kommentarseiten entschlüsseln die Herausgeberinnen die Eintragungen und geben, um es anschaulicher zu machen, ein paar Fotos dazu, erstmals aus dem Nachlass veröffentlicht, wie hervorgehoben wird: ein Fotobogen aus der Wohnung Hindemiths, Schnappschüsse aus dem Alltag. Auf einem liegen zwei Männer zwischen den Gleisen, der eine auf dem Bauch, der andere auf der Seite. "Immer wieder lädt Hindemith ausgesuchte Schüler, Kollegen, Verwandte und Freunde zum Spielen mit seiner Märklin-Eisenbahn zu sich nach Hause ein", verrät Susanne Schaal, eine der Herausgeberinnen.

Unter "F" ist das zuständige Finanzamt in Charlottenburg eingetragen, und Hindemith kann sich einen gezeichneten Kommentar nicht verkneifen: Ein gebücktes Männlein astet schwer an seiner Steuerlast, auf dem Buckel der Geldsack. Die nächste Eintragung: "Fleschs", die erweiterte Familie sozusagen. Hans Flesch war Rundfunkintendant in Berlin, ein Schwager Hindemiths. Darunter "Feuermann". Emanuel Feuermann, gleich um die Ecke wohnend, Frankenallee 11. Ein Cellist, mit dem Hindemith im Streichtrio zusammen musizierte. Auch ihn hat er mal eben skizziert. (Der Dritte im Bunde findet sich unter "G" wie Goldberg, Szymon.) Und auf der gegenüberliegenden Seite, wie er leibt und lebt, mit durchgebogenem Rücken, Taktstock in der Rechten und lässig herabhängender Linker: Wilhelm Furtwängler, der Dirigent.

Es sind auch Zeichen der Zeit, von Hindemith flink zwischen die Eintragungen gekritzelt. Unter "D" das Deutsche Theater am Weidendamm. Daneben eine blasse Ergänzung Hindemiths. "Programm" steht da, mit dem Bleistift schnell hingeworfen. Die Nummernfolge: "Heute: Fackelzug. Morgen: Judenhetze. Gestern: Wahlen. Übermorgen: Aufmarsch." Oder "U", wie Untersuchungsgefängnis, Alt-Moabit 12 a. Eine Adresse, die heute noch besteht. Daneben eine gefesselte Figur vor einem Fenstergitter. Innenansicht, Zelle? Außenansicht, Hofgang? Unwichtig. Den Kopf gesenkt, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, an den Füßen Eisenkugeln. Ein Bild des Jammers.

Schwager Hans Flesch saß in Moabit, bevor er ins KZ Oranienburg geschafft wurde. Und Hindemith, als er noch nicht offiziell verfemt war, gab am 24. Dezember 1933 und am 1. Januar 1934 zwei Konzerte in Moabit. Weihnachtskonzert, Neujahrskonzert, Nazizeit. Solo für Bratsche, Max Reger und Johann Sebastian Bach. Ob der Schwager im Drillich zuhörte? Ob sie Botschaften austauschten? Was wissen wir denn, trotz aller Entschlüsselungen? Es ist also auch so etwas wie ein verschlüsseltes Tagebuch. Chiffren einer aus den Fugen geratenden Welt, letzte Stoßseufzer.

Paul Hindemith fiel unter den Nazis in Ungnade. Goebbels brandmarkte ihn als "atonalen Geräuschemacher", kurz nachdem Wilhelm Furtwängler im November 1934 sich noch öffentlich für den beschimpften Kollegen eingesetzt hatte. Hindemiths Werke wurden verboten, seine Musik galt als "entartet". Er kündigte seine Lehrtätigkeit, floh schließlich. Am 16. August 1938 vermerkte Hindemith in seinem Taschenkalender: "Letzter Tag Berlin!" Zuflucht fand er in den USA.

Es ist ein leise machendes Büchlein. Zu viel Verschollene darin, Enteignungen, Verfolgte - eine Blutspur, entschlüsselt man nur alles. Es ist zugleich ein originelles, ein witziges Buch, in dieser Verpackung. Sage noch einer, die gute alte Buchkunst sei auf den Hund gekommen. Ein hübsches Geschenk für Geschichtsfreunde und Zeichendeuter.Paul Hindemith: Berliner ABC. Das private Adressbuch 1927 bis 1938. Herausgegeben von Christine Fischer-Defoy und Susanne Schaal, mit einem Vorwort von Walter Jens. Transit Verlag, Berlin 1999. 304 Seiten, 48 DM.

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