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Die Schottin Ada (Holly Hunter) wird an einen Auswanderer nach Neuseeland verheiratet. Ihr Klavier in der Holzbox will sie nach der Ankunft nicht am Strand zurücklassen.

© Studiocanal

"Das Piano" mit Holly Hunter: Die Befreiung des Blicks

Nach 30 Jahren zurück im Kino: Jane Campions Meisterwerk "Das Piano" ist wieder auf der Leinwand zu sehen, restauriert in 4K - und kein bisschen gealtert.

Ein Klavier am Strand von Neuseeland, zwischen wilden Wellen und schroffen Klippen, das Bild hat nichts von seiner Wucht verloren. Die Klavierspielerin, eine zierliche, stumme Frau, wird von den Maori aus dem Boot an Land getragen, bevor sie mit ihrer kleinen Tochter im Zeltgestänge ihres Reifrocks am Strand übernachtet.

Als Jane Campions Melodram „Das Piano“ 1993 in Cannes lief – und als erste Produktion einer Frau die Goldene Palme gewann – , war von einem Wunder die Rede. Vom Wunder eines Films, der das Historiengenre ebenso aufsprengte wie die überkommene Vorstellung von „Frauenfilmen“ und dem sogenannten weiblichen Blick.

Schon die Naturmalerei in "Das Piano" ist nach wie vor spektakulär

Die damals 39-jährige neuseeländische Filmemacherin, die zuvor mit „Ein Engel an meiner Tafel“ und ihrem Langfilmdebüt „Sweetie“ von sich reden machte, katapultierte ihr Publikum unvermittelt ins Herz jener Finsternis, die das Geschlechterverhältnis seit Jahrhunderten prägt.

Die Geschichte von Ada, die aus Schottland an den Auswanderer Stewart (Sam Neill) verheiratet wird und sich ihr geliebtes, an dessem Freund Baines (Harvey Keitel) verkauftes Piano über einen Liebesdienste-Deal mit Baines zurückerobert, lebt von Gewalt und Zärtlichkeit. Von der Poesie einer ebenso schwebenden wie passioniert fragmentierenden Kamera (Stewart Dryburgh), von der Choreografie der Blicke und der Unzähmbarkeit des Regenwalds mit seinen verschlungenen Lianen, Dunstschleiern und Sonnenlicht-Einfällen, für die der Begriff „Seelenlandschaft“ eine verharmlosende Untertreibung wäre.

Alleine die fragile Würde, mit der Ada samt Kopfhaube und Krinolinenkleid durch den Matsch watet, wird zum Sinnbild für das Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur, Eros und Puritanismus.

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Und wie funktioniert heute, farbenprächtig restauriert in 4 K, das Liebes- und Eifersuchtsdrama um zwei Männer und eine Frau in der Fremde, um Holly Hunter als Ada, mit großen, oft wütenden Augen im blassen Gesicht? So sehen sonst Stummfilmstars aus. Vielleicht wirkt Campions Bildmacht jetzt erst recht, wo die Filmkunst ihre Strahlkraft zu verlieren droht und aus dem Kino auf kleinere Endgeräte abwandert.

Eine mythische Geschichte, in der eine Frau radikal Ich sagt und gleichzeitig die Nähe zu anderen sucht

Zumal die Regisseurin das Sehen selbst auskundschaftet, den bannenden wie den befreienden Blick: von Stewarts Kamera-Auge beim Arrangieren des Hochzeitsfotos über Adas Hervorlugen zwischen ihren Fingern über Baines‘ tastende Annäherung an die Gestalt der Klavierspielerin bis zum Spähblick durch die Lücken der Bretterwand auf das Liebesspiel von Ada und Baines.

Die Entdeckung des Sex im viktorianischen Zeitalter. Holly Hunter und Harvey Keitel.
Die Entdeckung des Sex im viktorianischen Zeitalter. Holly Hunter und Harvey Keitel.

© Studiocanal

Nicht zufällig ist der Film im Jahr 1850 angesiedelt, dem Jahr der Erfindung der Fotografie, die dem des Bewegtbildes vorausging. Die kleine Kolonialistengemeinde führt zu Weihnachten das Märchen von König Blaubart als Schattenspiel auf; als der Frauenmörder zuschlägt, stürmen die Maori die Bühne. Sie halten für real, was sie sehen: So schaut das Kino auch auf seine eigenen Anfänge zurück, und auf die Gewalt, die ihm innewohnt.

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Die Entdeckung des Sex im viktorianischen Zeitalter, die Selbstrettung einer Heldin, die die Kolonisierung ihres Körpers überwindet, auch wenn sie schlimme Verletzungen davonträgt – diese Geschichte hat sich bis heute nicht erledigt. Sensibilisierung, Achtsamkeit, andere Geschlechter- und Körperbilder: Jane Campion grundiert all das mit einem Mythos, in dem eine Frau radikal Ich sagt, obwohl sie kaum eine Chance hat. Und die gleichzeitig die Nähe zu anderen sucht, sie erkundet wie einen fernen Kontinent.

["Das Piano" ist in Berlin ab Donnerstag im Kant-Kino wieder zu sehen, OmU in der Passage und im Delphi Lux.]

Dass Campion eine Pionierin geblieben ist, bewies sie zuletzt mit „The Power of the Dog“, in dem sie dem männlichen Begehren auf den Grund geht, ihrer Ahnengalerie des Weiblichen das Macho-Genre des Westerns hinzufügt und genderfluide Identitäten darin entdeckt. Schon in „Das Piano“ sind die Männer keine tumben Täter, sondern komplizierte, widersprüchliche, auch liebenswerte Charaktere. Der Film gewann drei Oscars, fürs Drehbuch, für Holly Hunter und Anna Paquin als Adas Tochter. Für „The Power of the Dog“ erhielt Campion jetzt den Regie-Oscar.

Schon damals, vor bald 30 Jahren, hätte Jane Campion auch den Oscar für den besten Film verdient. Trotz Michael Nymans (eigens für Holly Hunters kleine Hände komponierter) gefälliger Klaviermusik und trotz des etwas süßlichen Happy-Ends.

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