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Kraft der Tradition. Will Champion, Guy Berryman, Chris Martin und John Buckland sind Coldplay.

© Tim Saccenti/Warner

Das neue Coldplay-Album: Wenn du einen Freund brauchst

Coldplay wollen die Welt vor dem Wahnsinn retten und liefern mit „Everyday Life“ den Soundtrack.

Eben noch hatten sie den „Kopf voller Träume“ und feierten vor einem Millionenpublikum den Glanz eines Lichts, „das ewig strahlen werde“, wie es in dem Hit „Everglow“ heißt. Eben noch lächelten Coldplay einfach weg, dass es in dieser Welt immer weniger rosig zugeht. Nichts sollte ihnen den „Amazing Day“ kaputt machen. Ihr verträumter Optimismus führte geradewegs in ein knallbuntes Paralleluniversum der guten Laune. Da wird ihnen so viel Realitätsferne selbst unheimlich.

Mit dem Doppelalbum „Everyday Life“, das überraschend am Freitag erschienen ist und ganz allgemein von den Nöten des Alltags handelt, vollziehen die vier Briten um Sänger Chris Martin eine radikale Kehrtwende – jedenfalls nach ihren eignen Maßstäben. Das wuchtige Werk wollen sie als „ein Zeichen gegen die sich überall ausbreitende Negativität“ verstanden wissen. Erst mal überhaupt in ihrer 20-jährigen Karriere hätten sie sich getraut, den Blick auf konkrete Probleme zu richten, wie Martin gegenüber BBC Radio 1 zugab.

So ist das Album neben den zwei bis drei üblichen Stadionhymnen vor allem mit Songs gespickt, die Rassenhass und Waffenwahn, die Ausgrenzung Behinderter, Umweltzerstörung und die Armut Afrikas zur Sprache bringt. Allerdings wären Coldplay nicht sie selbst, wenn sie das Elend dieser Erde nicht auch gleich wieder umarmen würden mit einer Art seligen Zuversicht. „Hallelu-halle-hallelujah / Yes“, heißt es am Ende des Titelsongs, nachdem der die Themen des Albums noch einmal zusammengefasst hat.

Einfach weitertanzen, bis die Lichter ausgehen?

„Everyday Life“ wirft also die Frage auf, was besser ist: Die Flucht in irreale Popfantasien und eine von Chris Martin zuvor inbrünstig beschworene „abenteuerliche“ Party-Existenz? Oder die Konfrontation mit dem zermürbenden Wahnsinn der politischen Extreme, dem man aber nur ziemlich stumpfe Glücksversprechen entgegenhalten kann? Wie etwa, dass man schlicht „weitertanzen“ solle, „wenn die Lichter ausgehen“.

Es ist schon immer zu leicht gewesen, Coldplay für ihre Naivität fertigzumachen. Doch dass sie eine kleine Band in einem viel zu großen Körper sind, hat sie selbst nie vor schwerwiegende Probleme gestellt. Das sollte einem zu denken geben. Ihrem Wesen nach sind sie unbekümmerte Indie-Musiker, die sich selbst nach 80 Millionen verkauften Tonträgern und einer nicht abreißenden Folge gut geklauter Hits wie „Yellow“, „Clocks“, „Talk“, „A Sky Full of Stars“ und „Viva La Vida“ mit dem Habitus von Rucksacktouristen fortbewegen: unternehmungslustig, unbeschwert, auf die gute Sache bedacht.

Wie weit das geht mit dem notorischen Weltretter-Ehrgeiz demonstrieren sie jetzt gerade wieder, da sie die Veröffentlichung von „Everyday Life“ mit der Ankündigung verknüpfen, aus Gründen des Klimaschutzes vorerst auf eine Konzerttour verzichten zu wollen. Das zeichnet Popkünstler aus: Stimmungen zu antizipieren, sobald sie sich vermarkten lassen.

Andererseits ist ihr achtes Studioalbum auch nicht für Arenen konzipiert, wo die zarten Zwischentöne und vielsagenden Samples im Rausch des Gemeinschaftserlebnisses verloren gingen. Wenn überhaupt steht diese Musik im Bann einer Überwältigung, die sich in der Intimität entfaltet.

Ein gefühlvoller Sänger, ein unbedarfter Songwriter

Schon die Ouvertüre mit wehenden Streicherklängen zieht ungewöhnliche Register. „Sunrise“ heißt dieser Auftakt, und seine filmische Dramaturgie entfernt sich mit jedem pathetischen Ton weiter von der Realität. Als könnte die Band nicht anders als widersprüchliche Gefühle für eine Erfindung des Kinos zu halten. Entweder ist diese Musik falsch oder etwas stimmt mit dem Alltag nicht, dem sie gilt.

Coldplay haben einiges dafür getan, sie der Scheinheiligkeit zu verdächtigen. Obwohl Sänger und Gitarrist Chris Martin ein unscheinbarer Typ in weißem T-Shirt und Sweater geblieben ist, war von Anfang an der Ehrgeiz in ihm präsent, dem Rock’n’Roll etwas von dem zurückzugeben, was ihm in den späten Jahren der kollabierenden Britpop-Ära abhanden gekommen war, als er von britischen Bands wie Starsailor und Travis „in seinem eigenen Angstschweiß ertränkt wurde“ („Guardian“). Für Martins sonniges Gemüt war erst mal alles „yellow“. Was ihm nach dem Albumdebüt 2000 den Vorwurf einbrachte, ein Jahrzehnt voller Innovationen und tollkühnen Grenzüberschreitungen des Britpop auf dümmliche Liebeslieder zu reduzieren.

Tatsächlich ist Martin, so gefühlvoll er als Sänger agiert, ein unbedarfter Songwriter, dessen Zeilen sich in belanglosen Sprachbildern ergehen und ihren Gegenstand eher vage umkreisen als zu benennen. Scheu mag ein Grund dafür sein. Das Nebulöse hat dazu geführt, dass man sich in Coldplay-Songs stets ungeachtet der sozialen Herkunft wiederfinden kann. Und bei der Band selbst wiederum hat es den fatalen Irrtum provoziert, die eigene Musik für die Lösung all der Probleme zu halten, von denen die Menschheit gespalten wird. „Music is the weapon“, lässt sie Femi Kuti in einem Sample sagen, „Music is the weapon of the future.“

Es ist müßig, über die weltverändernde Kraft von Popmusik zu spekulieren. Anlässlich des Woodstock-Jubiläums im vergangenen Sommer ist alles dazu gesagt worden. Mit ihren aufgenähten, bunten Blümchen und dem „I could be you, you could be me“-Mantra sind Coldplay die Hippies der Digitalmoderne.

Klare Ansage in einem Song über die Rassendiskriminierung in den USA

So beschwört Chris Martin in den drei starken Songs des neuen Albums ein humanistisches Paradigma des Alle-sind-gleich, das seinen religiösen Glutkern nicht leugnet. Wenn auch Gott jetzt nicht persönlich in Erscheinung tritt, so wird er doch immerhin angerufen in dem Gospel-Stück „Broken“ und dem feierlichen Choral „When I Need A Friend“. Auch die Blues-Nummer „Cry Cry Cry“ steht für eine Rückversicherung der Band an uralte Traditionslinien, die ihren unzerstörbaren Geist über alle Zeitenwenden hinweg unter Beweis gestellt haben. Sie sind der Granit, auf dem Coldplay seine Luftschlösser errichtet.

Martin hat erklärt, dass er zuletzt erst mit der Ablehnung von Leuten umzugehen gelernt habe, die nicht seiner Meinung sind. Das habe ihn selbst befreit, klarer auszusprechen, was er denkt. Am besten ist ihm das in „Trouble In Town“ gelungen, einem niederschmetternden Song über die Rassendiskriminierung in den USA. „They cut my brother down / My sister can’t wear her crown“, heißt es da, bevor der Originalton einer Polizeikontrolle aus Philadelphia das Ausmaß an Verachtung zeigt, dass weiße Cops zwei schwarzen Passanten entgegenbringen. Der Song geht unter in einer wüsten Beleidigungstirade: „Fucking smartass, I’m asking you, what the X is, is that your middle name? ... Everybody thinks they’re a fucking lawyer and they don’t know jack shit.“

In „Guns“ schlägt Martin einen sarkastischen Ton an, wenn er sich über die Logik der Waffenlobby mokiert, dass die beste Antwort auf Gewalt mehr Waffen sein sollen. Und Empörung bricht sich auch in „Orphans“ Bahn, wo ein Chor aus vielen Greta Thunbergs fragt, wann man sie wieder ihr normales Leben führen lasse, statt die Nöte der Welt schultern zu müssen – „with bombs going boom ba- boom-boom“. Schließlich wird sogar ein altes persisches Gedicht rezitiert, das die Einheit der Menschen aus der Balance aller Teile erklärt. So viel gute Absicht hat einen Preis. Leider ist es die Langeweile.

Das Album ist bei Warner erschienen.

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