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Die Klangkünstlerin Jessy Lanza gehört zu einer neuen Generation von Musikerinnen, die ihre Stimmen als Instrument einsetzen.

© Jenia Filatova

Das neue Album von Jessy Lanza: Euphorie in Schlieren

Entkörperlichte Stimmen, futuristisches Design: Die kanadische Musikerin Jessy Lanza entsagt auf „All The Time“ dem Pop-Format.

Von Andreas Busche

Die Auszeichnung „Stimmwunder“ hat im gegenwärtigen Popbetrieb an Bedeutung verloren. Zum einen, weil stimmliche Defizite – auch dank Autotune – in der Postproduktion leicht behoben werden können. Und weil selbst außergewöhnliche Sängerinnen wie Ariana Grande auch live inzwischen kaum noch ohne Playback auskommen.

Die Stimme ist zur Produktionsmasse verkommen, die man sich in einem gewissen Segment kommerzieller Popmusik mit einer Crew namhafter Produzenten je nach Gefühlslage und Image individuell anpassen lässt.

Auftritt Jessy Lanza, die vor sieben Jahren mit ihrem Debüt „Pull My Hair Back“ zu einer Generation von jungen Künstlerinnen gehörte, die ihre Stimmen als formbares Klangmaterial entdeckt hatten, das man in seine Einzelteile zerlegen und nach Belieben neu zusammensetzen konnte – oder auch in einem Nebel von Halleffekten verschwinden lassen.

Julia Holter, Grimes, Austra, Lauren Halo, Holly Herndon, LA Vampires, ihnen allen schwebte eine neue Ästhetik von Post-Pop vor, die irgendwo noch im Club verortet ist, mit einem Skelett aus verwaschenen Beats, aber nicht mehr so leicht kommodifizierbar.

Lanza nennt Janet Jackson ihr Vorbild

„All The Time“, das dritte Album von Jessy Lanza, zeigt nicht zuletzt, welche Wandlung der Pop-Begriff in den vergangenen Jahren vollzogen hat. Es ist keine Koketterie, wenn sie Janet Jackson ihren größten Einfluss nennt. Natürlich ist R’n’B in den artifiziellen Pop-Entwürfen Lanzas nur ein abstraktes Zitat: ein Rhythmus, eine Stimmlage oder ihr Timbre, wenn sie in „Baby Love“ lasziv „Do it baby, do it baby“, nun ja, kiekst.

Sicher würde niemand auf die Idee kommen, Jessy Lanza ein „Stimmwunder“ zu nennen. Aber was sie mit ihrer Stimme in den 39 Minuten von „All The Time“ alles veranstaltet, ist stellenweise spektakulär.

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Wer den konservativen Standpunkt vertritt, dass Popmusik heute auserzählt sei, wird diese These auf „All The Time“ oberflächlich betrachtet bestätigt finden. Die Kanadierin Lanza macht eine Popmusik zweiter Ordnung. Aus den Dub-Effekten auf „All The Time“ sind auch die letzten Rückstände der jamaikanischen Mixtradition herausgefiltert; auf „Face“ bedient sie sich nervös-hochgepitchter Breaks aus dem Footwork, der in den nuller Jahren in den schwarzen Clubs Chicagos entstand.

Viele Einflüsse, viele Helferinnen

Doch kulturelle Aneignung ist im Pop seit je ein komplexer Vorgang, die Musik lebt von der gegenseitigen Inspiration. Zur Beruhigung sei daher gesagt: Geld wird Jessy Lanza auch mit „All The Time“ nicht verdienen. Auf dem Höhepunkt der Pandemie ist sie aus ihrer New Yorker Wohnung geflogen, das Album entstand sozusagen zwischen New York und San Francisco, ihrer neuen Adresse.

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Wie die Produktionsbedingungen in dem Budgetbereich aussehen, in dem Lanza arbeitet, merkt man am Video des Eröffnungsstücks „Anyone Around“ (spitze Schreie entfernter Club-Euphorie über einen verschleppten Hip-Hop-Beat). Das Bild ist in neun Kacheln unterteilt, man kennt die Ästhetik inzwischen zur Genüge. Der Song entstand jedoch noch vor Corona.

Die Welt dreht sich, Lanza dreht sich um die Welt

Dem britischen Label Hyperdub, seit 15 Jahren ganz vorne dabei, wenn es um innovative Popmusik geht, fehlt schlicht das Geld, um seine Künstlerin um die Welt zu fliegen. Aber wer da alles ins Bild drängt: ihr musikalischer Partner Jeremy Greenspan von den Junior Boys, Mitglieder von Caribou, Boy Harsher und dem Postpunk-Trio Savages. Jessy Lanza ist eine Netzwerkerin, sie sonnt sich nicht allein im Zoom-Ruhm.

„Once I’m spinning, I can’t stop spinning“, singt Lanza immer wieder in „Lick In Heaven“, einer weiteren Clubhymne, während sich ihre Stimme langsam in die dritte Dimension aufzufächern scheint. Dieser traumhafte Euphoriezustand, das unaufhörliche Drehen um die eigene Achse, bis die Welt um einen herum sich in Schlieren auflöst, beschreibt das Gefühl von „All The Time“ eigentlich am schönsten.
„All The Time“ von Jessy Lanza erscheint auf Hyperdub.

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