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„Allemagne Neuf Zéro“. Godards Deutschlandfilm mit Eddie Constantine (vorne)und unserem Autor, Hanns Zischler. Foto: Cinetext

© Cinetext Bildarchiv

Kultur: Das Kino und sein Kopf

Phantome, Poeten, Agenten: Jean-Luc Godard feiert heute 80. Geburtstag. Eine Erinnerung an seinen großen Deutschland-Film / Von Hanns Zischler

Am Anfang ist weder das Wort noch das Bild, sondern ein kariertes Heft mit leeren Seiten. Die Karos geben ein Raster vor, dem die Skizze einer Szene und der Text rechts neben dem Bild genügen.

Sparsamer kann die Grundausstattung für einen Film kaum sein als dieser Zwitter aus Schulheft und Briefmarkenalbum. Das war das Script, das Jean-Luc Godard während einer ersten Tour d’Allemagne durch die untergehende DDR anfertigte, im Spätherbst 1990. „Allemagne Neuf Zéro“ montiert die langen Augenblicke ihres Verschwindens zu einem Dokument fiktiver Geschichte. Er hatte mich gebeten, eine Reiseroute zu erstellen. Sie folgte den Orten, die ich während der in Mauerzeiten Westberlinern vorbehaltenen Tagesreisen aufgesucht hatte: Dresden, Leipzig, Bitterfeld, Weimar, Naumburg, Stralsund. Er wollte sich mit der „Einsamkeit eines Volkes“ befassen, der der Deutschen in der DDR.

Drei Jahre zuvor hatte Godard mir in einem kurzen Videofilm aus der Reihe „Les Français vu par ...“ die Rolle eines deutschen Wehrmachtoffiziers übertragen, der auf einem Landgut 1943 den jungen französischen Philosophen und Widerstandskämpfer Feldman füsilieren lässt. Daneben spiele ich den Sohn des Offiziers, der an die Stätte der Untat zurückkehrt – und auf seine hartnäckigen Fragen nach dem Hergang des Verbrechens als Antwort nur Bachs Chaconne zu hören bekommt. Bald darauf spielte ich in „Mon cher sujet“ von Godards Lebensgefährtin Anne-Marie Miéville mit.

Das Motiv, mit Musik gegen die Sprache zu opponieren, kehrt in „Allemagne Neuf Zéro“ wieder, wenn die Bratscherin Kim Kashkashian mit einem furiosen Schostakowitsch die tiefgefrorene sowjetische Zeit aufsprengt. Eine ähnlich bildsprengende Musik ist mir aus den Beethoven-Proben des Prat-Streichquartetts in „Vorname Carmen“ (1983) in Erinnerung. Die Musik drückt, wie Godard sagte, „nicht die Seele, sondern den Körper einer Frau“ aus.

Damals fiel mir auf, dass er ein ungewöhnlich wachsames Auge auf die Ausrüstung hat. Ein Handwerker, der jedes Gerät sorgsam pflegt. In „Allemagne Neuf Zéro“ hatte er sich zwei nagelneue Arri-Kameras gekauft, und als der erste kleine Defekt auftrat, musste die Münchner Firma einen Techniker nach Berlin schicken.

Die Gestalten, die durch den Film gehen, die Stimmen aus Literatur, Kunst, Geschichte, und die Orte und Räume, die ohne Filmlicht aufgenommen sind: Sie versammeln sich zum Panorama einer deutschen Geistes-, Real- und Filmgeschichte, wie sie ein von deutscher Kultur geprägter Kopf nicht hätte ersinnen können.

Es ist fast ausnahmslos von Fußgängern bevölkert: Die Art der Fortbewegung birgt bei Godard enormes narratives Potenzial. Er registriert das Gehen, Rennen und Fahren wie Balzac von seinem Caféhaus-Leuchtturm das der Grands Boulevards. In der „Außenseiterbande“ (1964) schafft der beiläufig auf der Straße angedeutete Tanz von Anna Karina und Sami Frey Augenblicke des Glücks, das wie aus amerikanischen Filmen herbeizitiert scheint. „Weekend“ (1967) ist die Katastrophe des automobilen Stillstands. In „Rette sich, wer kann“ (1980) ist es die folgenschwere Attacke eines Automobilisten auf einen Fußgänger, welche das soziale Klima schlagartig beschreibt. In seinen jüngeren, athletischen Jahren bewegte Godard sich gerne im Handstand vorwärts.

In „Außer Atem“ (1960), seinem berühmtesten Film, gehen Belmondo und Jean Seberg auf den Straßen von Paris spazieren. Am Ende taumelt Belmondo angeschossen über den Fahrweg, stirbt auf dem Asphalt und drückt sich, Inbild der absoluten Freiheit, selbst die Augen zu.

Die frühen Godard-Filme kannten noch eine Art Handlung. In „Allemagne Neuf Zéro“ gibt es keinen Plot mehr, in dem das aus dem Nebel aufsteigende, von riesigen Baggerschaufeln aufgefressene Land sich einfangen ließe. Stattdessen geistern Figuren durch den Film, die aus ihren angestammten Plätzen in der Dichtung, Musik oder Politik herausgerissen und mit dem Stigma der Vereinsamung markiert sind.

Es hat den Anschein, als habe Godard in der Cinémathèque française, in deren Kinosaal die Kritiker der „Cahiers du Cinéma“ durch ein rätselhaftes Entwicklerbad zu den Cineasten der Nouvelle Vague heranreiften, nicht nur die Fertigkeiten zum Filmemachen erworben, sondern auch die Angst davor. Eine Angst anzufangen, neue Erschließungen zu erproben – durch leere Aufnahmen, durch unglaublich intensive Vorbereitungen. Bei „Allemagne Neuf Zéro“ wurden allein drei Wochen darauf verwendet, die technischen Probeaufnahmen zu einem Kriegsschauplatz mit der Berliner Firma Geyer auszudehnen. Angst vor dem Anfang ist auch von früheren Filmen überliefert, zum Beispiel von „Alphaville“.

Aus diesem schwärzesten aller Filmnoir-Filme taucht wie ein Untoter Eddie Constantine auf. Ein „solider Block“, wie Godard ihn nannte, als er ihn 1961 kennenlernte. Aus dem Agenten Lemmy Caution ist in „Allemagne Neuf Zéro“ ein Schläfer geworden. Die Tatsche, dass Constantine bei jeder sich bietenden Gelegenheit einschlafen konnte, hat Godard ungemein fasziniert. So ist der „Schläfer“ eine gespenstische Übertragung des jugendlichen Helden auf den moribunden Alten ... Lemmy Caution sucht nach der einen, rettenden Himmelsrichtung: „Which way to the West?“ fragt er Sancho Pansa, der ihn an seinen Herrn verweist. Doch der ist vom Kampf gegen die neuen Windmühlen, die landfressenden Abraumbagger absorbiert. Kein schlimmeres Bild der Vereinsamung als der Augenblick, in dem Lemmy seine Perücke abnimmt und als der gedemütigte Eddie Constantine zurückbleibt.

Weimar ist von Buchenwald umgeben. Die Schilder weisen den Weg, verweisen auf die Überlagerung des locus amoenus mit dem Ort des Grauens. Dora (Claudia Michelsen), die durchs Goethehaus und aus der Reihe tanzt, ist die „wandernde Jüdin“, die Frau, die Deutschlands Geister heimsucht: Freud, Kafka – und das Zwangsarbeiterlager, dessen Namen sie trägt. Sie ist die Gestalt, mit der die Fiktion ihre Verhüllung abwirft und in die Realgeschichte zurückkehrt. Dann springt sie im Park an der Ilm wieder aus der Gegenwart in die Geschichte zurück, in den Stummfilm.

Dora ist eine Unglückliche. Eine entfernte Schwester der schwarz-weiß geschminkten Anna Karina in „Alphaville“, die den einfachen, schweren Satz „Je t’aime“ nicht mehr aussprechen kann. Die Frauen in Godards Filmen – auch Seberg, Brigitte Bardot in „Die Verachtung“ oder Myriem Roussel in „Je vous salue, Marie“ – agieren häufig wie die großen Schauspielerinnen des Stummfilms: heftiges, überwältigendes Körperspiel und lange Augenblicke sehnsuchtsvollen Verharrens.

Der Stummfilm in „Allemagne Neuf Zéro“ ist Berlin, die Stadt der „Menschen am Sonntag“ von 1929. Godard aktiviert dessen utopischen Impuls: Wir sehen, was vertan, verworfen wurde. Aus dem Stummfilm hat Godard ein weiteres Merkmal übernommen: den Zwischentitel, den Text als Bild. Frappierender kann Desillusionierung nicht sein als durch diese hart inserierten Texte.

Außerdem tritt Graf Zelten auf, aus Jean Giraudoux’ Roman „Siegfried et le Limousin“ von 1924. Er verkörpert die poetische Verklärung der deutschen Romantik, die immer nur Absicht blieb und nie eingelöst wurde. Eine Figur wie aus Carl Schmitts „Politischer Romantik“ (1919), „ohne eigenen Entschluss, eigene Verantwortung und eigene Gefahr“. Die deutsche Romantik hatte ein Projekt „Deutschland“ lanciert, das in seiner Trennung des Schönen vom Wahren politische Perspektiven eröffnete, die um so verheerender waren, als sie ästhetisch überstrapaziert wurden. Schinkels Havarie – die Zerstörung des Lindencorsos, Abriss des residentiellen Berlin – war, überspitzt gesagt, ein Vorgriff auf Speers und Hitlers Germania. Auch das zeigt Godards Film.

Filme sehen, heißt einer Geisterbeschwörung beiwohnen. Godard ruft auch die Geister der Filmgeschichte auf. Mit Murnaus „Nosferatu“ setzt das Boot an der Sacrower Heilandskirche über die Havel: Jetzt, nach dem Mauerfall, werden die Geister der Vergangenheit auch den Westen heimsuchen – was seit 1989 in erschreckendem Ausmaß auch geschehen ist.

Und er mobilisiert einen riesigen Chor von Stimmen; dazu setzt er Bilder von Bildern und Filmen, Gemälde, Grafiken und Fotografien ein. Eine Überformung, die er ständig zu steigern weiß, bis an den Rand der „Lesbarkeit“ – in jedem Film mehr! Die überdeterminierten Bilder sind auch eine böse Parodie der Fernsehnachrichten, bei denen neben dem bereits beschnittenen zentralen Bild zwei oder drei Banderolen mitlaufen: verstümmelte Stenogramme schrecklicher Ereignisse, Börsennotierungen, Meteorologisches – und Werbung.

Alle Gestalten in Godards Deutschlandfilm sind ver- und entwirklichte Figuren. Das erschwert ihre „Identität“. Sie bergen den Grad ihrer Vereinsamung in sich, sind uneindeutig, weil überdeterminiert, wie der Landstrich, den sie heimsuchen: Deutschland. Und wie Godards Helden überhaupt uneindeutig sind, einsam wie ihr Regisseur, der Mann mit der dunklen Brille und der tiefen, leisen Stimme, einer, der sich rar macht seit Jahren, ein Monolith, ein Phantom der Filmgeschichte.

Kino als Archäologie. Das Deutschland des 19. Jahrhunderts, jenes Phantom, dessen Zangengeburt im Spiegelsaal von Versailles vor sich ging, nimmt die Staffage einer billigen Film-Antike an. Godard setzt sie ins Bild, indem er die ausrangierten Embleme auf dem Schrottplatz der Babelsberger Studios zeigt. Antik meint hier jenen Zustand, der es uns erlaubt, aus dem Abgesunkenen Entwürfe einer heroisch konzipierten Zukunft zu entziffern. Auf dem Studiogelände singt ein Chor zwischen künstlichen Ruinen – und Lemmy Caution vernimmt eine Stimme aus dem Jenseits, ein Anruf, eine Anrufung: Marlene Dietrichs letzter, telefonischer Gruß an das untergegangene Babelsberg.

Wenn wir ins Kino gehen und Spielfilme sehen, begegnen wir auf gespenstische Weise den Bildern unserer Geschichte. Der Schneidetisch als Zeitmaschine: Zehn Jahre arbeitete Godard an seinen „Histoire(s) du Cinéma“ (1998). In seinem gesamten Œuvre hat die unermüdliche Lektüre des Kinos ein Arsenal von Filmbildern zutage gefördert, die in einem unheimlichen Sinn zu realen Geschichtsbildern geworden sind.

In „Allemagne Neuf Zéro“ ist es Godards große Leistung, das geisterhafte Deutschland, die trivialisierte „Antike“ in die Gegenwart der untergehenden DDR eingeblendet zu haben. Dass mit dieser DDR auch ein sehr viel älteres, weniger pathetisches und pathologisches Deutschland untergeht, macht er mit der Integrierung realer Landschaften in Landschaftsbilder augenfällig. So geht Lemmy Caution wie in einem Bild von Ruisdael oder Brueghel über einen vereisten Dorfweiher, und wir hören ihn die Liedzeilen vom „Morgenrot“ und „frühen Tod“ orakeln. Die Gegenwart einer maroden Landschaft von 1990 gerät so auch in den Hörraum einer gereimten Zeit, die „anders spricht“ als heute. Er habe in jungen Jahren, erzählt Godard, Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“ auf Deutsch gelesen.

Godards Liebe zur Sprache: Er nimmt die Worte beim Wort, indem er mit ihnen spielt, die Sprachen überblendet, schon in den Titeln, in „Forever Mozart“ (1995), in „Deutschland Neu(n) Null“ oder zuletzt im polyglotten „Film Socialisme“.

„Allemagne Neuf Zéro“ ist die bewusste Verneinung eines Dokumentarfilms – und nach Murnaus „Nosferatu“ sowie Rossellinis „Germania Anno Zero“ der dritte Anlauf im Dreisprung 1923, 1947, 1991, der nicht zufällig mit der deutschen Geschichte synchron läuft. Einzig Bachs Musik und seine Fugentechnik sind von der Konfrontation der Filmbilder mit der Historie ausgenommen: Bach ist für Godard Entwurf und Maßstab für eine vertikale, eine fugale Kinematografie. So ist es immer bei ihm: Der Fluss der Bilder wird in einer immer komplexeren Partitur aufgehoben, in der Schichtung von Bild, Stimmen, Geräusch und Musik.

„Deutschland Neu(n) Null“, einer der besten Filme über dieses Land, ist praktisch nirgendwo zu sehen, auch auf DVD nicht erhältlich. Nicht einmal jetzt, wo Godard, der große Verschollene des europäischen Kinos, seinen 80. Geburtstag feiert.

Hanns Zischler lebt als Schauspieler, Essayist, Fotograf und Übersetzer in Berlin. Er arbeitete mehrfach mit Godard zusammen und übersetzte dessen „Histoire(s) du Cinéma“ für das Label ECM ins Deutsche.

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