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Ja, ja, der Chianti-Wein. Peter Schreier besingt den Süden, den die DDR-Bürger kaum sahen.

© Klaus Winkler

Das Hitalbum des DDR-Startenors: Sing, mein Sachse, sing

Auferstanden aus Archiven: Peter Schreiers berauschendes Hitalbum „Schöne, strahlende Welt“ lässt sich jetzt digitalisiert erleben.

Die Geigen jubilieren, Harfen schicken ihre Arpeggien gen Himmel, Blechbläser strahlen, auf jedem Höhepunkt sitzt ein Beckenschlag: Mit einem sinfonischen Brillantfeuerwerk startet dieses Album, und feuert dann Rakete um Rakete ab, volle 14 Titel lang. Doch dieser unglaublich flauschige, champagnerfarbene Klangteppich wird nicht etwa für eine Broadway-Legende ausgerollt oder für einen Las-Vegas-Crooner, sondern für Peter Schreier, den Vorzeigetenor der Deutschen Demokratischen Republik.

„Komm in die Welt“ schmettert der Mann aus Meißen, der als Mitglied im Dresdner Kreuzchor mit protestantischer Kirchenmusik aufwuchs und bis heute als unantastbarer Interpret der Oratorien von Johann Sebastian Bach gilt, der zu Lebzeiten als hochseriöser Kunstlied-Sänger gefeiert wurde und als schönstimmiger Liebhaber in Mozart-Opern.

1977 steht Peter Schreier im Zenit seines künstlerischen Könnens – und begibt sich dennoch lustvoll in die ganz seichten Gefilde der Unterhaltungsmusik, huldigt mit jünglingshafter Emphase dem Glanz Granadas, gibt den Operetten-Wiener in „Grüß mir die süßen, die reizenden Frauen“ aus der „Gräfin Mariza“, verströmt sich in tenoraler Erotik bei der Canzone „Sprich zu mir von Liebe, Mariù“ und veredelt sentimentale Texte, die skrupellose Schnulzendichter über Melodien von Chopin, Grieg oder Tschaikowsky gelegt haben.

Mindestens 1000 Violinen scheint das Große Rundfunkorchester Berlin aufzubieten für diese akustische Überwältigungsästhetik, die Arrangements von Gerhard Kneifel berauschen, ja betäuben die Hörer geradezu mit ihrer funkelnden, flirrenden Üppigkeit. Nicht einmal in der goldenen Ära Hollywoods entfalteten Film-Soundtracks einen derart luxuriöse, cinemascopehaft-technicolorige Pracht. Der Sozialismus siegt, verkündet diese vor 44 Jahren erschienene Eterna-Schallplatte. Selbst auf dem Gebiet des Gänsehaut-Kitschs entscheidet sich der Kampf der Systeme zugunsten des Arbeiter- und Bauernstaats.

Denn in der ausschließlich auf Profit ausgerichteten Logik des Kapitals würden die Studiobosse selbst für ihren größten Star niemals so viel kostentreibendes Instrumentalpersonal bereitstellen, wie es der DDR-Rundfunk hier für den Nationalpreisträger Peter Schreier tut. Die Christuskirche in Oberschöneweide wird zur Kathedrale des Schönklangs, zum Talmi-Tempel, in dem Robert Hanell mit dem Taktstock die Schaumkronen auf dem wogenden Notenmeer tanzen lässt, als dirigierte er das Wasserballett in einer Friedrichstadtpalast-Revue.

Es ist dem Label Berlin Classics zu verdanken, dass dieses skurrile Tondokument jetzt aus dem Dunkel der Archive auferstehen durfte, um als digitaler Datenträger in CD-Form oder zum Streamen von der Widersprüchlichkeit des DDR-Alltags zu erzählen. Als Schreiers Lebensfreude-Album erschien, war gerade Wolf Biermann ausgebürgert worden. Die ostdeutsche Kulturszene befand sich an einen Kipp-Punkt. Es war der Moment, an dem selbst jene, die bislang daran geglaubt haben, dass ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz möglich sei, das Vertrauen in ihre Staatsführung verloren, sich zur inneren Emigration entschlossen - oder dazu, einen Ausreiseantrag zu stellten.

Und ist es nicht eigentlich zynisch, wenn ein Interpret, der als Devisen-Kader ständig im Westen auftreten durfte, seinen eingemauerten Landsleuten vorschwärmt: „Ja, ja, der Chianti-Wein, der lädt uns alle ein“? Für Peter Schreier mochte das zutreffen, die allermeisten seiner Zuhörer aber mussten sich mit den Weinen aus den südosteuropäischen Bruderländern begnügen.

Der Titel des Albums, „Schöne, strahlende Welt“, bekommt da einen bitteren Beigeschmack: Überall lockt in den Texten der sonnige Süden, es glitzert das azurblaue Meer, dunkle Zypressen säumen Terrassen und Alleen. Und im Jahr darauf schob der VEB Deutsche Schallplatten Berlin gleich noch ein weiteres populäres Projekt mit Peter Schreier nach, „O sole mio“ genannt, von dem fünf Nummern als Bonustracks auf der Wiederveröffentlichung zu finden sind.

Viele Plattenbaubewohner mochten die Einladung zum Gedankenflug ins amarettoselig-tiramisusüße Italien gerne annehmen, ebenso wie ihre Mitbürger in den bröckelnden Altbauten mit Etagenklo auf halber Treppe diese kleinen akustischen Fluchten in die spanische Sierra Nevada oder pazifische Inselparadiese genossen. In schweren Zeiten sehnen sich die Leute nun einmal nach schönen Illusionen. Und darum kommt diese Wiederveröffentlichung jetzt genau zur rechten Zeit: Den Trip nach Mallorca verkneifen wir uns, aber wenigstens mit den Ohren reisen wir auf Flügeln des Gesangs in die mediterrane Wärme – in der Hoffnung, dass die Töne bis in unser Herz ausstrahlen mögen. Frederik Hanssen

„Schöne, strahlende Welt“ ist bei Berlin Classics erschienen.

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