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Das vernetzte Fleisch: Clemens von Wedemeyers Video "Transformation Scenario”, 2018.

© Curtesy the artist, KOW Berlin, Jocelyn Wolff, Paris

Das Geheimnis der Empfindung: Eine Berliner Ausstellung untersucht die Passivität

Der Körper ist erregbar und verletzlich und er darf es auch sein. Im Kreuzberger Kunstverein ngbk geht es um unsere Fleischlichkeit.

Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach, heißt es schon in der Bibel. Jesus hat den Spruch seinen Jüngern an den Kopf geworfen, als er sie in der Nacht vor seiner Gefangennahme schlafend vorfand, obwohl doch vereinbart war, dass sie mit ihm wachbleiben. Um sich über das eigene schlaffe Fleisch zu erheben empfiehlt Jesus das Gebet. Man kann sich aber auch der Kunst zuwenden. Das Formlose und die zähe Masse spielen dort eine wichtige Rolle.

Etliche Theoretiker und Philosophen haben sich Gedanken darüber gemacht, wie die ästhetische Form, die Wahrnehmung und das Fleisch zusammenspielen. Eine Ausstellung in der Kreuzberger Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (ngbk) bringt das unter dem Titel „Radikale Passivität: Politiken des Fleisches“ auf den Punkt. Es ist ein intellektuell formuliertes Lob auf die Schlaffheit.

Will man sich den kapitalistischen Zwängen der Verwertung nicht beugen ist Passivität durchaus eine Option. Schlafen ist Passivität, man macht nichts und das aus freien Stücken. Anders die Schlaflosigkeit. Sie ist ein Unvermögen, das quält. In der Theorie nennt man das „potenzierte Passivität“. Sterben ist potenzierte Passivität, ebenso das Geborenwerden. Niemand kann sich das aussuchen. Unseren Körpern passieren diese Dinge. Das Fleisch ist sensibel, erregbar und verletzlich, ob wir wollen oder nicht.

Die Fähigkeit zur Empfindung kommt aus dem Fleisch

Die Selbstregulation mit Tabletten und Medikamenten kritisiert die Ausstellung ebenso wie die Stimulation durch Thrill. Die sich wiederholende Abfolge von Erregung, Frustration und Erregung stimuliert unser erregbares Fleisch. Das nutzt die Pornoindustrie gnadenlos aus, aber auch jede andere Form von Konsum. Sogar die Kunst arbeitet so. Der spanische Philosoph und Queer-Theoretiker Paul B. Preciado spricht von einer „pharmakopornografischen“ Biopolitik in der Gesellschaft.

Die Vorhänge sind ein tolles Sinnbild dafür – sie sind weich und schlaff, leisten keinen Widerstand. Der Künstler Eran Schaerf hat sie entworfen. Die hauchdünnen Raumtrenner in sanften Fleischtönen von Rosa, über Lila bis Grau gruppieren die Werke, stellen Sichtbezüge her, definieren Laufwege und sie lassen sich für die drei aufeinanderfolgenden Teile der Ausstellung immer wieder neu konfigurieren, ohne große Mühe.

Das ist clever inszenierte Passivität. Im ersten Teil der Ausstellung stehen Themen wie Verletzlichkeit und Sucht im Zentrum. Der zweite Teil widmet sich der digitalen Fleischlichkeit. Das Digitale manipuliert den Körper und seine unwillkürlichen Empfindungen ebenso wie Drogen und Tabletten. Außerdem haben wir es bereits überall mit digitalem Fleisch zu tun.

Ein fleischlich-maschinelles Gefüge

Wie das aussieht, zeigen unter anderem drei Videoarbeiten der in London beheimateten Künstlerin Sidsel Meineche Hansen. Hauptakteurin dieser Videos ist EVA v3.0, eine digitale Figur, die man bei einem Online-Anbieter kaufen kann. Dieses 3D-Modell wird normalerweise in der Erwachsenenunterhaltung eingesetzt oder auch in pharmazeutischen Erklärvideos.

Künstliches Fleisch. Hier ein Ausschnitt aus dem Video „Seroquel“ von Sidsel Meineche Hansen.
Künstliches Fleisch. Hier ein Ausschnitt aus dem Video „Seroquel“ von Sidsel Meineche Hansen.

© Rodeo London / Piraeus

In Sidsel Meineche Hansens Video „No Right Way 2 Cum“ sieht man EVA v3.0 als fragmentierten, sehnigen Frauenkörper in verschiedenen Perspektiven, von oben, von innen, von vorn. Finger mit ordentlich manikürten Nägeln reiben zwischen den Beinen. Schließlich ejakuliert EVA v3.0 gegen den Screen.

Eine freche Antwort auf die Tatsache, das weibliche Ejakulation in England nicht gezeigt werden darf, wie man aus dem Begleitheft erfährt. Aber auch ein Erleben roher, maschineller Fleischlichkeit. In einer Virtual Reality-Arbeit schlüpft man mit 3d-Brille auf dem Kopf erneut in EVAs Körper. Dieses Mal verfügt das Modell über einen großen Phallus, mit dem es einen braunen formlosen Klumpen penetriert. Solche Stoßbewegungen kann man übrigens auch in Online-Shops kaufen.

Das Ringen um die Farbmassen

Das Formlose, das Klebrige und die zähe Masse werden als Gedanke in vielen Arbeiten aufgegriffen, etwa in den pastelligen Kaugummi-Gemälden der lettischen Künstlerin Vika Prokopaviciute, die hier mit der Farbmasse ringt, auch wenn sie digital arbeitet.

Clemens von Wedemeyer beschäftigt sich in anderer Weise mit der Masse. In seinem Video „Transformation Szenario“ untersucht er die digitale Simulation von Menschenmassen in Blockbuster-Filmen. Das „flüssig-wogende Kollektiv“ ist ein beliebtes Gegenbild zur restriktiven Körperpolitik, birgt aber auch die Gefahr der Entmachtung des Subjekts.

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Wenn man über diese Ausstellungstücke spricht, sollte man im Hinterkopf behalten, dass Kuratorin Kathrin Busch, Präsidiumsmitglied der Gesellschaft für künstlerische Forschung, alle Arbeiten eben dieser Gattung zurechnet. Gemeint sind nicht künstlerische Kollaborationen mit Naturwissenschaftlern.

Die Ausstellenden erforschen kunstwissenschaftliche oder philosophische Theorien und Begriffe mit den Mitteln der Kunst, statt mit Textanalyse oder anderen Methoden. Ihre Erkenntnisse kommen dann als ästhetische Objekte, als Zeichnung, Video oder queere Performance daher.

[ngbk, Oranienstr. 25, bis 1. 11., tägl. 12 bis 18 Uhr, Fr bis 20 Uhr]

Das generierte Wissen zu entschlüsseln kann ohne die relevanten Begrifflichkeiten im Kopf eine Herausforderung sein. Doch produktives Unbehagen und Neugier auf die Passivität stellen sich auch in schlaffem Zustand ein. Das gut gemachte Booklet zur Ausstellung hilft. Der dritte Teil der Schau beginnt am 16. Oktober. Dringende Empfehlung.

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