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Befreite Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald, 1945.

© Harry Miller/dpa

Das ganze Grauen des Holocaust: Dieser Zeugenband der Shoah ist ein Fanal

Der monumentale und exzellent editierte Band „Von der letzten Zerstörung“ versammelt etliche Zeugnisse der Shoah. Er ist erstmals auf Deutsch erhältlich. Die Kolumne Flugschriften.

Von Caroline Fetscher

Caroline Fetscher schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Sachbücher. Nächste Woche:  Gerrit Bartels über den Literaturbetrieb.

Ausgrenzung beginnt mit kleinen Signalen und Gesten. Misstrauische Blicke, geflüsterte Gerüchte, das fehlende Grüßen der Nachbarin auf der Straße. So sahen die ersten Stufen der Eskalation gegen die jüdische Bevölkerung aus.

Es folgten groteske, sadistische Verbote. Juden sollten nicht mehr auf Parkbänken Platz nehmen, keine Schulen besuchen, weder Radios, Haustiere noch Wintermäntel besitzen. Antisemitische Menschenjagden erreichten ihr Ziel in millionenfachen Deportationen und Morden.

Wie in Lettland, 1941. „Gebrochen vor Schmerz, mit fragenden Kindern auf den Armen, schleppte sich die Menge langsam in die neue, ihr unbekannte Richtung“, berichtete der Überlebende Moses Edelstein. „Von Weitem hörte man ironisches Gelächter, widerhallende Freudenrufe: ,Endlich werden wir von den Juden befreit, die umsonst unser lettisches Brot fressen.’“

Nach der Liquidierung von 3000 Juden der Stadt Liepaja mussten andere Juden deren Gräber schaufeln, „auf dem schmalen Küstenstreifen des Meeres, wo unsere Kinder an sonnigen Tagen gespielt hatten. (…) Man dürfe nicht bemerken, dass irgendwo ein Fuß zu sehen war, oder dass einige verkrampfte Finger herausragten.“

Das Zeugenprojekt wurde erst jetzt ins Deutsche übersetzt

Die Sätze stammen aus einem eben erschienenen, monumentalen Band mit Zeugnissen, dessen Dimension an Claude Lanzmanns „Shoah“ erinnert, die neunstündige filmische Dokumentation von 1985. Der exzellent edierte Band erscheint wie ein schriftliches Pendant zu „Shoah“. Er ist ein Fanal.

[Frank Beer/Markus Roth (Hg.): Von der letzten Zerstörung. Die Zeitschrift „Fun letstn churbn“ der Jüdischen Historischen Kommission in München 1946-1948. Aus dem Jiddischen von Susan Hiep, Sophie Lichtenstein und Daniel Wartenberg. Metropol Verlag, Berlin 2021. 1032 S., 49 €.]

„Churbn“ war die jiddische Bezeichnung für „Zerstörung“, ehe es die Begriffe Holocaust oder Shoah gab. Das Zeugenprojekt aus der unmittelbaren Nachkriegszeit war einzigartig. Erst jetzt, 2021, erscheinen die Dokumente komplett und gewissenhaft kommentiert, aus dem Jiddischen ins Deutsche übersetzt.

Dieses Buch ragt heraus wie kaum ein anderes

Die Zeitschrift zur „Geschichte jüdischen Lebens zur Zeit des Naziregimes“, herausgegeben durch die im November 1945 unter Moshe Faygenboym gegründete Jüdische Historische Kommission des Zentralkomitees der befreiten Juden in der amerikanischen Zone, enthielt die erste Sammlung von Dokumenten Überlebender, unter anderem aus Polen, Lettland, Litauen, aus Buchenwald, Dachau, Sobibor, Stutthof, Auschwitz – Berichte aus der menschgemachten, von Deutschen organisierten Hölle. Federführend für die Zeitschrift war der Historiker Israel Kaplan (1902 - 2003), die Texte erschienen auf Jiddisch in hebräischen Lettern.

Israel Kaplan erhielt Berichte über Panik und Verfolgung, Todesangst, Verlust, Verzweiflung, Widerstand, über Infamie und Perfidie der Akteure des NS-Regimes, über auseinandergerissene Familien und das Auslöschen ganzer Lebenswelten.

Abgedruckt wurden auch Dokumente des Nationalsozialismus, Pläne von Ghettos, Fotografien von Erschießungen, von Kindern, Alten, Verletzten ebenso wie Lieder der Inhaftierten. Dazu gab es ein Glossar der Alltagssprache in Lagern und Ghettos, wo etwa das jiddische Wort „shmelts“ für die Todesöfen stand. Berichtet wird von Liquidierungen oder Selektionen der „A-Juden“ und „R-Juden“, womit „Arbeitsjuden“ und „Rüstungsjuden“ gemeint waren.

Mit einem Team, das so klein ist, wie sein Engagement groß, publiziert der Berliner Metropol Verlag Jahr für Jahr exzellente Bände, darunter viele zur Erinnerung an die Shoah. Doch dieses Buch ragt heraus wie kaum ein anderes.

Es gehört in die Hände nicht zuletzt derer, die „Vogelschiss“ als Synonym für den Nationalsozialismus verwendet haben und aktuell im Parlament der Bundesrepublik sitzen; der Republik, die nach dem moralischen Totalbankrott nahezu der gesamten deutschen Bevölkerung allein durch die Gnade der Alliierten überhaupt gegründet werden durfte.

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