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Die Stellvertreterin. Jewher Ilham, Tochter des Sacharow-Preisträgers Ilham Tohti, am vergangenen Mittwoch bei der Verleihung.

© Frederick Florin/ AFP

Das Drama der Uiguren: „Das Lagersystem expandiert, die Wut wächst“

„Niemand fühlt sich mehr sicher“: Dolkun Isa, Präsident des Weltkongresses der Uiguren, über das Schicksal seines Volkes im heutigen China. Ein Interview.

Von Gregor Dotzauer

Dolkun Isa, 1967 in der autonomen Region Xinjiang der Volksrepublik China geboren, ist seit November 2017 Präsident des Weltkongresses der Uiguren in München und Vizepräsident der in Brüssel ansässigen Unrepresented Nations and Peoples Organization (UNPO). Vor europäischen Parlamenten, Menschenrechtsorganisationen und den United Nations hat er sich immer wieder für die Sache seines muslimischen Turkvolkes stark gemacht. Für China gilt er deswegen als Unterstützer von Terroristen. Das Gespräch mit ihm wurde am Telefon geführt.

Dolkun Isa, wir erreichen Sie in Straßburg, wo Sie gerade an der Verleihung des Sacharow-Preises für geistige Freiheit an Ihren Landsmann und Freund, den uigurischen Wirtschaftswissenschaftler Ilham Tohti, teilgenommen haben. Die Auszeichnung des Europäischen Parlaments wurde allerdings von seiner in den USA lebenden Tochter Jewher Ilham entgegengenommen. Was wissen Sie über Ilham Tohtis Situation, der 2014 wegen angeblicher separatistischer Aktivitäten in China zu lebenslanger Haft verurteilt wurde?

Um ehrlich zu sein, wissen wir gar nichts. Seit 2017 hat nicht einmal seine Tochter zu ihm Kontakt gehabt. Wir wissen weder, wo er inhaftiert ist, noch ob er am Leben ist. Zwischen 1990 und 1994, als ich in Peking Englisch und Türkisch studierte, haben wir uns oft getroffen.

Muss man also davon ausgehen, dass er von seiner Auszeichnung gar nicht erfahren hat?

Weil es in chinesischen Gefängnissen unüblich ist, durch Fernsehen oder Zeitungen auf dem Laufenden gehalten zu werden, ist das sehr wahrscheinlich.

Sind durch die Auszeichnung die Chancen gestiegen, dass er wie der letztjährige Preisträger, der ukrainische Filmregisseur Oleg Senzow, in naher Zukunft freikommt?

Wir hoffen das natürlich, denn er ist unschuldig. Durch seine publizistischen Aktivitäten wollte er der chinesischen Zentralregierung mit Rat und Tat helfen, die Spannungen zwischen Uiguren und Han- Chinesen in der autonomen Provinz Xinjiang abzubauen. Öffentliche Aufmerksamkeit kann nur dazu beitragen, dass ihm Gerechtigkeit widerfährt.

Seit November 2017 sind Sie der dritte Präsident des 2004 in München gegründeten Weltkongresses der Uiguren. Wie kam es dazu, dass die Uiguren, mit gut zehn Millionen Menschen eines der bevölkerungsreichsten Völker unter den 55 offiziell anerkannten Minderheiten Chinas, ausgerechnet in Bayern seine Exilzentrale errichtete?

Nun, bis zum Ende der 1990er Jahre war München der Ort, an dem sich eine starke Gemeinde niedergelassen hatte. Bevor die Sowjetunion kollabierte, war Deutschland sogar das einzige europäische Land, in dem Uiguren außerhalb von China, Kasachstan und Kirgistan lebten. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand das von den Amerikanern finanzierte Radio Free Europe/Radio Liberty, das von München aus seine Programme vor allem Richtung Ostblock ausstrahlte. Heute hat es seinen Sitz in Prag. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gründeten die Uiguren ihre erste europäische Vertretung, die ostturkestanische Union in Europa, eine Säule des späteren Weltkongresses der Uiguren. Aus Radio Liberty, für das Uiguren arbeiteten, ging 1994 Radio Free Asia mit einem eigenen uigurischen Kanal hervor. Dann zogen Uiguren aus der Türkei nach München, es gab Familienzusammenführungen. So entwickelte sich München nach und nach zur Hauptstadt der Diaspora.

Nachdem es ab 2018 über die Existenz von Umerziehungslagern, in denen mindestens eine Million Uiguren interniert sein sollen, nur wohlbegründete Spekulationen gab, haben Dokumente die Beweislage nun erhärtet. Warum ist es so schwer, die in den Lagern herrschenden Grausamkeiten völkerrechtlich zu ahnden?

Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die chinesische Regierung ihr Narrativ ständig verändert. Die ersten Lager wurden ja schon 2014/2015 gebaut, als eine Regierungskampagne zum „harten Durchgreifen gegen brutalen Terrorismus“ entstand. Das Universum der Verfolgung als Ganzes ist aber nicht neu. Politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell gab es gegenüber den Uiguren immer eine Assimilationspolitik. Die han-chinesische Dominanz ist weiterhin das erklärte Ziel. Man hat dabei nur immer mal wieder eine Maske aufgesetzt.

Der Umschwung kam mit Chen Quanguo.

Ja, 2016 wurde er als Parteisekretär aus dem rebellischen Tibet nach Xinjiang versetzt. Allein in Ürümqi installierte er alle 200 bis 300 Meter polizeiliche Überwachungsstationen, insgesamt 960, dazu zahlreiche Checkpoints. Nach und nach ließ er die Pässe aller Uiguren einsammeln. Der mediale Aufschrei blieb aus, was ihn zu seinem nächsten Schritt ermutigte: Er ließ die Flüge von Ürümqi nach Dubai und Istanbul streichen, dann alle Direktflüge von Kashgar ins Ausland. Wieder empörte sich niemand. Da begannen die Einweisungen in die Lager. Und in einem nächsten Schritt wurden 3000 bis 4000 Moscheen zerstört. Wieder hat die Welt, auch die islamische, nicht reagiert. Dann gab es weitere Restriktionen. Es hieß, man dürfe Moscheen erst ab 18 Jahren betreten, stellte am Eingang Scanner auf und gab spezielle Ausweise aus.

Uigurinnen demonstrieren 2009 in Urumqi, nachdem es bei Protesten über 140 Tote gegeben hatte.
Uigurinnen demonstrieren 2009 in Urumqi, nachdem es bei Protesten über 140 Tote gegeben hatte.

© picture-alliance/ dpa/Diego Azubel

Die chinesische Regierung hat lange sogar die Existenz der Lager geleugnet.

Aber als sie davon sprechen mussten, sagten sie, es handle sich weder um Konzentrations- oder Umerziehungslager, sondern um Fortbildungszentren. Die Leute sollten angeblich auf neue Jobs vorbereitet werden. Aber was sollte dort dann meine 78-jährige Mutter, die im Juni 2018 in einem dieser Lager starb?

Halten Sie das Lagersystem mit seinen Umerziehungsprogrammen für effektiv? Ist es nicht das genaue Gegenteil, weil es den gewaltsamen Widerstand und Terrorismus, den es verhindern will, erst züchtet?

Das erscheint mir mehr als plausibel. Das fängt schon damit an, dass es keine freie Meinungsäußerung mehr gibt. In dem Maße, in dem Familienmitglieder, Freunde und Bekannte im Lager manchmal auf Nimmerwiedersehen verschwinden, entstehen Wut und Rachegefühle.

Was wäre denn eine Lösung für den Konflikt zwischen Peking und Xinjiang? Oder ist es angesichts der Traumatisierung der Uiguren für eine Aussöhnung zu spät?

Ich hoffe sehr, dass es nicht zu spät ist. Wir gehen davon aus, dass bis zu drei Millionen Menschen in den Lagern einsitzen. Der erste Lösungsansatz bestünde darin, dass die Regierung alle Unschuldigen freilässt und sich bei ihnen entschuldigt. Aber das Lagersystem expandiert, und niemand fühlt sich mehr sicher. Dabei geht es nicht nur um das Völkerrecht, sondern auch um die Einhaltung der für Xinjiang geltenden Autonomiegesetze. Auch das Gespräch zwischen den Führern der Uiguren und den Parteioberen muss wieder in Gang kommen – auch wenn ich das angesichts von Xi Jinpings Härte bezweifle. Das uigurische Volk hat jedes Zutrauen in Peking verloren.

2006 wurden Sie deutscher Staatsbürger. Heißt das, dass Sie mit Ihrem neuen Pass problemlos nach China einreisen können?

Ganz und gar nicht. Seit meines Physikstudiums in Ürümqi, wo ich als Studentenführer auftrat, werde ich dort bedroht. Damals, 1987, taten wir uns zusammen und unterrichteten Dorfbewohner über ihre Autonomierechte gemäß der chinesischen Verfassung. Erst wurde ich vier Monate lang festgenommen, dann ein halbes Jahr vor meinem Abschluss von der Universität geworfen. Der Druck ließ auch in Peking an der Universität der Fremdsprachen nicht nach.

Dolkun Isa.
Dolkun Isa.

© REUTERS

Waren Sie nach Ihrer Flucht 1994 jemals wieder in der Volksrepublik?

Nein, das war unmöglich.

Wie halten Sie dann Kontakt mit Ihrer Familie und Ihren Freunden?

Zu meinen Freunden habe ich jeden Kontakt verloren. Wenn ich meine früheren Schulkameraden anrufen würde, brächte ich sie in große Bedrängnis: Alle Telefonate werden überwacht. Mit meinen Eltern habe ich ab und zu ein paar einfache Worte gewechselt. Mehr als ein „Wie geht es Euch?“ und eine knappe Antwort waren aber nicht drin.

Fühlen Sie sich als international wichtigster Repräsentant der Uiguren auch in Deutschland gefährdet?

Vor allem nach den gewaltsamen Aufständen in Xinjiang 2009 bekam ich schlimme Mails und telefonische Drohungen. „Du bist ein Schwein, wir bringen dich um“, hieß es da. Auf meinem Handy klingelte es pausenlos, ohne dass sich am anderen Ende jemand meldete. Und bei einer Pressekonferenz beschimpften mich chinesische Studenten so massiv, dass die Polizei sie abführen musste. Heute fühle ich mich sicherer, auch wenn ich in Italien schon einmal auf offener Straße kurzzeitig festgenommen wurde. Aber wer weiß, was morgen geschieht?

Was erwarten Sie von der deutschen Regierung in Bezug auf die Lager?

Deutschland ist in Europa Chinas größter Handelspartner. Aber man kann in Anbetracht der Ereignisse keine normalen Geschäfte betreiben. Auch viele chinesische Christen und tibetische Buddhisten leiden. Die Politik sollte nicht nur das Wort ergreifen, sondern Taten sprechen lassen. Es ist Zeit für Sanktionen – die US-Regierung hat schon welche verhängt. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte: Diese zentralen Werte der Deutschen sollten auch in der Sache der Uiguren Anwendung finden.

Was kann der Einzelne tun? Fordern Sie Touristen auf, die Volksrepublik bis auf Weiteres zu boykottieren?

Der Einzelne kann sich zum Beispiel über die sozialen Medien äußern. Man kann Briefe an Siemens und Volkswagen schreiben und darum bitten, die Geschäfte unter den gegebenen Bedingungen auszusetzen. Reine Business- und Vergnügungsreisen sind in meinen Augen gerade keine gute Idee.

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