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Kultur: Das dicke Ende kommt um sechs

Mehr Gelassenheit: Das Berliner Literaturfestival widmet sich zum Finale dem Sorgenkind Europa.

In einem kleinen behaglichen Waldhäuschen wohnen viele kleinere Tiere friedlich zusammen. Immer wenn ein neuer Ankömmling anklopft, heißen sie ihn willkommen. Bis schließlich ein Bär Aufnahme begehrt ... Der russische Schriftsteller Michail Schischkin hat dieses Bild einem russischen Märchen entlehnt. Seine Geschichte vom „Teremok“-Häuschen ist Teil des „literarischen Rettungsschirms für Europa“, der im Rahmen des am Wochenende zu Ende gegangenen Internationalen Literaturfestivals Berlin aufgespannt wurde. Das gemütliche Tierhäuschen, schreibt Schischkin, erinnere ihn an Europa. Dort herrsche, ruft sich der Ungar György Dragomán dieses Ankunftsgefühl in Erinnerung, ein „rührendes, für andere vielleicht gar nicht merkliches, langweiliges Glück“, das schmeckt, wie wenn man durch die bittere Schale der Zitrone beißt und gleichzeitig süße Feigenkerne kaut.

Doch spätestens seit dem Zusammenbruch der Lehman Bank vor genau vier Jahren wird der Westen daran erinnert, wie fragil dieses Glück ist. Es machen sich Unruhe und Angst breit in diesem Häuschen, die nicht nur vom russischen Bären herrühren. Die Europäer scheinen sich wie in dieser unbeschreiblichen Minute vor dem Untergang zu fühlen, von der Georgi Gospodinov in seiner Erzählung „Die Apokalypse kommt um sechs Uhr abends“ erzählt: „Manchmal“, erklärt der bulgarische Autor, „ist das Ende der Welt persönlich und still“. In einer solchen Minute konzentriert sich dann die Schwermut, die der Slowene Drago Jancar in seinem 1937 in Maribor spielenden Roman „Nordlicht“ beschreibt.

Vom Umgang der Osteuropäer mit historischen Umwälzungen und ihrem Improvisationstalent ließe sich lernen. Davon jedenfalls ist der Osteuropa-Kenner Karl Schlögel überzeugt. Zum Auftakt des diesjährigen Festival-Schwerpunkts „Europe Now“ mahnte er einen gelasseneren Umgang mit der Krise an. Nicht nur die Netzkultur, auch die neuen Wanderbewegungen synchronisierten die europäischen Lebenswelten.

Dass der Kontinent nach den Ausblicken gen Asien oder Afrika nun in den Wahrnehmungshorizont des Berliner Literaturevents rückte, ist schon Symptom: Rettungsbemühungen gelten bekanntlich nur Bedrohtem. Was da allerdings in Gefahr ist, war auf diesem Festival nicht genau auszumachen.

Gilt die Sorge der europäischen Kultur? Der Demokratie? Oder ganz einfach dieser Insel der Seligen, die sich von den inzwischen nicht ganz freiwilligen Wanderbewegungen auch zunehmend bedroht fühlt und so etwas wie eine eigene Identität immer nur exterritorial, in der Ferne auszubilden imstande ist? Was ist ein Europäer, fragt sich die albanische Schriftstellerin Linda Arapi. Ist er kritisch, optimistisch, tolerant, vielsprachig und frei lebend, wie sie sich ihn erträumt? Oder ist das nur die modernisierte idealistische Vorstellung, die Nicolai Karamsin dem russischen Volk im 18. Jahrhundert in seinen Briefen hinterließ?

Gemessen an der Vielfalt der Literatur verfügt Europa über einen Reichtum, von dem andere Kontinente nur träumen können. Wären gut gesetzte Worte eine Währung, ließe sich jedes Not leidende Land auslösen. Aber selbst Schriftstellern und Intellektuellen schwant wohl, dass mit diesem Papier keine ratingfähigen Boni auszugeben sind, und, wie Umberto Eco einmal sagte, ein Schriftsteller immer noch den Umweg über die „New York Review of Books“ nehmen muss, um in Europa anzukommen.

So fahndete man auf den Podien nach den wichtigsten Insignien europäischer Identität, nach diesem nützlichen Hemd, das sich einfach überziehen ließe, um dazuzugehören. „Diskrete Qualität“ forderte die dänische Autorin und Journalistin Janne Teller für diesen niedrigschwelligen „Access“, um der bedrohlichen Renationalisierung zu begegnen. Doch was sind schon Worthemden gegen nationalstaatlichen Egoismus und Xenophobie, gegen Armut und Bakschisch-Kultur? Nicht Johan Huizingas offene Niederlande, bezeugt Adriaan van Dis seine trotzige Abwehr, hätten aus ihm einen Europäer gemacht, sondern die dumpfen, zagenden Niederlande.

Emphatischen Europa-Barden begegnete die aus Moldawien stammende Nicoleta Esinencu allerdings mit den Realitäten eines Landes, das ein Viertel seiner Arbeitskräfte ins Ausland schicken muss und deren Kinder ohne Eltern zurückbleiben. Ihr Skandalstück „FUCK YOU, Eu.ro.Pa!“ ist eine Abrechnung mit diesem auf Brutalität und Autoritätsgläubigkeit gründenden Armenhaus, das einen Staatsbesuch von Angela Merkel aber ähnlich pompös ausrichtet wie einstmals die Breschnews. Ein Vergleich, der Hans-Christoph Buch sichtlich die Sprache verschlug.

Wenn Europa, um den auf dem Festival oft bemühten Umberto Eco noch einmal zu zitieren, vor allem ein Übersetzungsproblem ist, dann auch am Wochenende. Der Versuch, Intellektuelle mit einem Investmentbanker ins Gespräch zu bringen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt: So „lernend“ sich Martin Wiesmann gab, so unvermittelbar die Grundstimmungen von basaler Bürgerempörung auf der einen und kühler Finanzrationalität auf der anderen Seite.

Ob das chronische Finanzloch oder der Wunsch nach Einübung in Europa der Grund waren, dass manches Panel zur Überraschung des Publikums einfach auf Englisch abgehalten wurde? Jedenfalls taugt das mancherorts bemühte europatypische Basic-English nicht für Nuancen; was aber nicht weiter auffiel, weil manches Gespräch schon auf dem Niveau einer Coffeetable-Plauderei stattfand. Das schmälert nicht die Leistung, die Ulrich Schreiber Jahr für Jahr mit dem Festival erbringt. Aber die angemessene Erregungsenergie entsteht so in dieser Europa-Debatte nicht. Ulrike Baureithel

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