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Szene aus Sibylle Bergs Stück „Mein ziemlich seltsamer Freund Walter“, das Katharina Brankatschk am Thalia Theater Halle auf die Bühne gebracht hat und jetzt in Berlin gastiert.

© Falk Wenzel/Festival "Augenblick mal!"

Das Berliner Theaterfestival "Augenblick mal!": Lisa und die Spielplatzrüpel

Zum 14. Mal findet das Theaterfestival für ein junges Publikum in Berlin statt, der kleine Bruder des Theatertreffens. Zu sehen sind überraschende, teils irrwitzige Inszenierungen, in den Sophiensälen und anderswo.

Auf der Bühne liegt ein nigerianischer Junge, wie tot. Ein älterer weißer Mann mit dickem Bauch gesellt sich dazu. Macht es sich auf dem Klappstuhl bequem. Und mampft in aller Seelenruhe eine ganze Tafel Schokolade. Ein durchaus plakatives Bild, keine Frage. Dann hebt der Mann das Kind auf, trägt es im Arm – und wird unversehens von ihm angefallen und vampirmäßig ausgesaugt. Ups! Gerade hatte man es sich im Klischee bequem zu machen begonnen, und jetzt diese groteske Umkehrung der Verhältnisse!

„Sorry“ heißt das Stück, das die deutsche Company Monster Truck zusammen mit dem nigerianischen Choreografen Segun Adefila entwickelt hat. Es ist eine Performance-Parabel für fünf junge Tänzer und einen Schauspieler, der auch Schlagzeug spielen kann. Sie erzählt vom postkolonialen Verhältnis zwischen dem Westen und Afrika, mithin von einer Beziehung, die himmelweit von jeder Augenhöhe entfernt ist. Monster Truck und Adefila steigern das zu einem gespenstischen Tanz in Schokoladensauce, der mit beißendem Sarkasmus moralische Gemütlichkeit, stereotype Projektionen und westliche Krokodilstränen auf die Zuschauer zurückschmeißt.

Europa, Afrika und die Zersetzung der Stereotypen: Szene aus "Sorry" von der deutschen Company Monster Truck, das zusammen mit dem nigerianischen Choreografen Segun Adefila entwickelt wurde.
Europa, Afrika und die Zersetzung der Stereotypen: Szene aus "Sorry" von der deutschen Company Monster Truck, das zusammen mit dem nigerianischen Choreografen Segun Adefila entwickelt wurde.

© Florian Krauss/Festival "Augenblick mal!"

Zehn Inszenierungen wurden ausgewählt, genau wie beim Theatertreffen

"Sorry“ ist eine von zehn Inszenierungen, die zum 14. Festival „Augenblick mal!“ eingeladen wurden. Das bringt alle zwei Jahre die zehn bemerkenswertesten deutschsprachigen Inszenierungen für junges Publikum nach Berlin und hat insofern durchaus Theatertreffen-Rang. Eine fünfköpfige Jury, ganz modern als „Kuratoren-Team“ gelabelt, wählt die Arbeiten aus. Mit „Sorry“ – dem Höhepunkt der ersten Festivalhälfte – lag sie jedenfalls goldrichtig.

Ebenso mit dem wunderschönen Stück „Mein ziemlich seltsamer Freund Walter“ von Sibylle Berg, das Katharina Brankatschk am Thalia Theater Halle auf die Bühne gebracht hat. Sibylle Berg, deren Schreibtalent für Kinder eindeutig mehr Beachtung verdient, erzählt darin von Lisa, deren Leben ein ziemlich trister Murks ist. Ihre Eltern saufen sich die Arbeitslosigkeit mit Weißwein aus dem Tetrapack erträglich. Der Schulweg führt sie täglich vorbei an rappenden und mobbenden Spielplatz-Rüpeln („Wir sitzen nicht, wir lungern!“). Und in der Klasse ist das für Astronomie entflammte Mädchen die krasse Außenseiterin. Bis ihr der Himmel, genauer: der Weltraum, eines Tages Walter schickt, einen Pan-Tau-Verwandten mit Melone und außerirdischen Fähigkeiten. Was Brankatschk und ihr tolles Ensemble (Benito Bause, Harald Höbinger, Sophia Platz, Paul Simon) als Steilvorlage für eine irrwitzige und temposatte Inszenierung nutzen. Die trifft vor allem perfekt den herrlich unsentimentalen Ton, der Sybille Berg ja zu eigen ist.

Puppenspiel, Tanz, Gesellschaftsspiele - das Spektrum ist groß

Freilich beschränkt sich „Augenblick mal!“ nicht aufs Erzähltheater, sondern pflügt mit fünf Arbeiten für Kinder und fünf für Jugendliche einmal quer durch den Genre-Garten: Puppenspiel, Tanz, Physical Theatre, Musikstück oder, siehe die „Konferenz der wesentlichen Dinge“, Gesellschaftsspiel. Die Kölner Gruppe Pulk Fiktion bringt dafür Erwachsene und Kinder an einen Tisch, um sie Grundregeln des familiären Zusammenseins neu verhandeln zu lassen. Eine frühe Übung in Demokratie also, was angesichts der wachsenden populistischen Unwucht ja nicht schaden kann.

In der "Konferenz der wesentlichen Dinge" von der Kölner Gruppe Pulk Fiktion verhandeln Kinder und Erwachsene die Regeln des familiären Zusammenseins.
In der "Konferenz der wesentlichen Dinge" von der Kölner Gruppe Pulk Fiktion verhandeln Kinder und Erwachsene die Regeln des familiären Zusammenseins.

© Julius Matuschik/Festival "Augenblick mal!"

Dazu gibt’s in diesem Jahrgang noch drei internationale Gastspiele zu sehen, unter anderem aus den Niederlanden („Hip Hop Hurray“) sowie aus Weißrussland. Yevgieny Korniags „Latent Men“ ist ebenfalls ein Hammer. Das Tanzstück mischt, von harten Elektrobeats befeuert, gestörte bis gewalttätige Geschlechterbeziehungen auf – mit drei Material Girls im engen schwarzen Kleid und fünf Jungs in Unterhose, die sich verzweifelt nach Pissoirs in zwei Metern Höhe recken. Tja, die Erwartungen an Größe…

Kultursenator Lederer pries zur Eröffnung die Bedeutung des Kinder- und Jugendtheaters

Zu sehen ist „Latent Men“ in den Sophiensälen, Austragungsort des Festivals ebenso wie Grips Podewil, Prater der Parkaue, Theaterdiscounter sowie Halle Ostkreuz, die ja vom Theater Strahl genutzt wird. Strahl gastiert auf dem Festival auch mit der hoch energetischen, deutsch-niederländischen Tanzproduktion „Basement“.

Ansonsten ist es nicht eben ein Berliner Dominanz-Jahrgang. Eingeladen sind noch Turbo Pascal mit ihrer Produktion „Die Paten“, entstanden in Kooperation mit dem Heimathafen Neukölln. Und „Sorry“ wurde von den Sophiensälen mit produziert.

Dafür pries Kultursenator Klaus Lederer schon zur Festivaleröffnung in hohen Tönen die gesamtgesellschaftliche Bedeutung des Kinder- und Jugendtheaters, dem Berlin jährlich rund 12 Millionen Euro Förderung angedeihen lasse. Nach den nächsten Haushaltsberatungen könnte sogar eine 13 vorm Komma stehen. Das wäre ja mal was! Ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Vorausgesetzt, man meint es ernst mit der Wertschätzung.

- Noch bis zum 30. April, Infos: www.augenblickmal.de

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