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Wo ist der Mörder? Julia (Ilenia Pastorelli) wird von einem Serientäter verfolgt.

© Alamode Film

„Dark Glasses“ im Kino: Dem Tod ins Auge blicken

Horror-Maestro Dario Argento erfährt gerade eine Würdigung seines einflussreichen Werks. Mit dem Neo-Giallo „Dark Glasses“ hat er nun sich selbst eine Hommage geschaffen.

Von Andreas Busche

Es mag im Kino wie eine Binse klingen, aber das Sehen ist besonders in den frühen Filmen des italienischen Horror-Impresarios Dario Argento ein zentrales Motiv. Sein stilistisches Markenzeichen, die entfesselte Kamera, simuliert die Orientierungslosigkeit des Betrachters, die subjektive Kameraperspektive ist bei Argento keine zuverlässige Instanz. Aus dieser Verunsicherung entstanden in den 1970er Jahren einige seiner besten Filme.

Etwa „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“ mit Tony Musante oder „Rosso – Farbe des Todes“ (bekannter unter seinem Originaltitel „Profondo rosso“) mit David Hemmings: Beide Filme sind großangelegte Puzzle, in denen die Protagonisten, Augenzeugen eines Mordes, lange Zeit ein wichtiges Detail verdrängen, das am Ende zur Lösung des Falls beiträgt. „Terror in der Opera“ von 1987 beginnt mit der Großeinstellung auf die Pupille eines Raben, später werden einem Opfer die Augenlider vernäht, so dass sie den Mord an ihrem Freund mitansehen muss. Die Szene ist die Quintessenz von Argentos Kino: die Angstlust des Horrorkinos, die den Betrachter zum Hingucken verführt, zwingt.

Es ist also sinnfällig, dass der heute 81-jährige Argento im Herbst seiner Karriere noch einmal zum Motiv der Blindheit zurückkehrt. Er schlägt damit zudem einen Bogen zu seinem zweiten Film „Die neunschwänzige Katze“ (1971), in dem ein blinder Journalist, gespielt von Karl Malden, ebenfalls Zeuge eines Mordes wird. Auch „Dark Glasses“, sein erster Film seit zehn Jahren, beginnt mit einer klassischen Argento-Einstellung.

Eine junge Frau (Ilenia Pastorelli) hält mit ihrem Wagen am Straßenrand an, um sich eine Sonnenfinsternis über Rom anzusehen. Sie setzt sich ihre großformatige Sonnenbrille auf und blickt erwartungsvoll in den Himmel; eine erste Vorahnung. Zwischen den Passanten, die ebenfalls stehenbleiben, um das Spektakel zu beobachten, entspinnt sich ein Gespräch. „Unsere Vorfahren fürchteten sich vor der Sonnenfinsternis“, meint einer. „Weder den Tod noch die Sonne darf man anstarren“, entgegnet ein anderer. Gleich zu Beginn hat Argento damit diese für ihn typische Mischung aus Archaik und Urangst etabliert, ohne dass – bis dahin – ein Tropfen Blut geflossen ist. Der Maestro scheint nichts verlernt zu haben.

Expressive Farbdramaturgie, exzessive Gewaltbilder

„Dark Glasses“ ist eine Rückkehr Argentos zu dem Genre, das er wie kein Zweiter geprägt hat, den „Giallo“: blutige Thriller, getaucht in eine expressive Farbdramaturgie, voll exzessiv-lustvoller Gewaltbilder. Für Argento-Fans ist das nach seiner Schwächephase (zuletzt mit „Dracula 3D“) eine gute Nachricht. Man muss „Dark Glasses“, der auf der Berlinale seine Premiere hatte, wohl als eine Hommage an sich selbst verstehen.

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Argento-Würdigungen gab es zuletzt einige: Das Arsenal zeigte gerade eine Werkschau, der französische Provokateur Gaspar Noé schenkte seinem Idol in „Vortex“ eine wunderbar unsentimentale Altersrolle als Filmkritiker, sein erster Auftritt vor der Kamera. In Cannes gab es dafür 2021 Standing Ovations. Man kann Dario Argentos Bedeutung für das europäische Genre- und Kunstkino nicht genug würdigen.

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Die dunklen Brillengläser der Protagonistin Julia, einer Sexarbeiterin, die nach dem Angriff eines Serienmörders erblindet, sind ebenso ein Argento-Zitat wie der pulsierende Synthie-Score von Arnaud Rebotini. Drehbücher waren nie eine Stärke von Argento, aber auch sein Stilwille ist in „Dark Glasses“ etwas heruntergedimmt. Noch immer strahlt seine Nacht in tiefem Blau-rot, aber die hochgejazzte Psychedelik seiner Farbtableaus fällt etwas flacher aus als früher.

Die Handlung ist wie immer hanebüchen, aber für Argento-Verhältnisse fast rührend. Julia ist nun im Visier des Serienmörders, zur Hilfe kommen ihr ein kleiner Junge, dessen Eltern ebenfalls beim Angriff auf sie starben, und eine Blindentherapeutin, gespielt von Tochter Asia. Diese emotionale Ebene ist neu bei Argento, aber am Ende kann er doch nicht anders, als seinen alten Giallo-Reflexen zu folgen. Als letztes Vermächtnis ist das aber angemessen. Andreas Busche

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