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Dag Solstads Romane haben immer wieder autobiographische Bezüge.

© Simone Padovani/Getty Images

Dag Solstad wird 80: Die Macht des Tagtraums

Der norwegische Romancier gehört zu den ganz Großen seines Landes. Der Staat zahlt ihm als Anerkennung jährlich eine Rente von 200 000 Kronen. Jetzt wird er 80 Jahre alt.

Wildromantisch zerklüftete Fjordlandschaften sucht man in Dag Solstads Romanen vergeblich. So etwas wie Lokalkolorit scheint er tunlichst zu vermeiden. Wegen Knut Hamsuns frühen Büchern „Hunger“ oder „Pan“ sei er Schriftsteller geworden, erklärte Solstad im März 2019 beim Interview in Berlin. Obwohl er mit seiner Frau, der Dramaturgin und Theater-Publizistin Therese Bjørneboe, ab 2000 für mehrere Jahre in Kreuzberg gelebt hat, spricht er nur Norwegisch.

Das führt im autobiografisch grundierten Roman „16.7.41“, der auch einen Abstecher in Solstads südnorwegische Heimatstadt Sandefjord unternimmt, zu absurd-vergnüglichen Missverständnissen. Die fehlende Kenntnis des Deutschen bewahrt ihn davor, seine kauzigen ideologischen Behauptungen überprüfen zu müssen.

Das ehemalige Ost-Berlin hat es dem einstigen Maoisten und eingefleischten DDR-Sympathisanten besonders angetan. Seit seinem 70. Geburtstag bezieht er als einer der renommiertesten Gegenwartsautoren Norwegens eine staatliche Ehrenrente von jährlich 200 000 Kronen.

Wie das Christiania beziehungsweise Oslo in Hamsuns „Hunger“ für den einsamen Protagonisten nur den abstrakten Hintergrund für immer fieberhaftere Fantasmagorien darstellt, so kommt auch den Schauplätzen in Solstads rund dreißig Romanen nur die Funktion von Tableaus zu, auf denen die – durchweg männlichen – Helden in kunstvoll mäandernden Sätzen ihre inneren Konflikte ausbreiten.

So ist in dem 1987 publizierten Roman „T. Singer“ über das südnorwegische Notodden nur zu erfahren, dass sich dort der Hauptsitz der Firma Norsk Hydro befindet, die das Land durch die Nutzung von Wasserkraft reich gemacht hat.

Wie Melvilles „Bartleby“ gibt sich auch Solstads Protagonist zögerlich

T. Singer, ein verhinderter Schriftsteller, tritt in Notodden eine Stelle als Bibliothekar an. Dag Solstad fühlt sich nach eigenen Angaben dieser Romanfigur sehr ähnlich: „Das hier ist Singer, absorbiert von seiner heimlichen Bestimmung, die in erster Linie ein Tagtraum ist.“ Doch zum Glück ist es bei Dag Solstad nicht bei dem einen Satz geblieben, über den T. Singer nicht hinausgekommen ist: „‚Eines schönen Tages stand er Auge in Auge einem denkwürdigen Anblick gegenüber.’“

Dieser kontemplative Ansatz prägt das Erzählwerk Solstads, das sich seit dem Debüt „Spiraler“ von 1965 als feste Burg zur Verteidigung des Individuums samt dessen Recht auf das Alleinsein ausgerechnet im skandinavischen „Volksheim“ verstehen lässt.

Solstads Protagonisten wie Professor Andersen, der einen Mord mitansieht, ohne den Täter anzuzeigen, oder der Diplomat Armand aus dem aus 99 Fußnoten bestehenden Buch „Armand V. Fußnoten zu einem unausgegrabenen Roman“ sind Seelenverwandte von Herman Melvilles widerständigem Schreiber „Bartleby“, der stets antwortet: „Ich möchte lieber nicht“.

Sein ganzes Leben bestehe aus Schrift, sagt Solstad von sich

Dass auch deutschsprachige Leser:innen einen Zugang zu diesem außergewöhnlichen Romankosmos erhalten, dafür sorgt seit 2004 der Zürcher Dörlemann-Verlag mit seiner verdienstvollen Solstad-Reihe, die von Ina Kronenberger übersetzt wird. Solstad sagt über sich, sein ganzes Leben bestehe aus Schrift.

Als Freund der Zahlen hält er es wie jene Komponisten, die ihre Werke durchnummerieren. „Elfter Roman, achtzehntes Buch“ heißt einer seiner bedeutendsten Romane, in dem sich ein Stadtkämmerer mit düster glühender Radikalität den Ansprüchen seiner Umwelt verweigert. Am heutigen Freitag feiert Dag Solstad seinen 80. Geburtstag – und begibt sich hoffentlich weiterhin auf nihilistische Wahrheitssuche.

Katrin Hilllgruber

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