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Der Film „Cycles“ ist genau drei Minuten und 33 Sekunden lang. Von links nach rechts: Jeanot Borgol, Caroline Adwoa Wisser, Sofia Eftychidou.

© Cycles Collective

Cycles Collective eröffnet XJazz in Berlin: Die Sonne rollt am Fenster vorbei

Das Cycles Collective aus Berlin schafft Filme, die befreien. Doch nicht nur das: Am Mittwoch eröffnet es das XJazz Festival mit Musik, Poesie – und Duft.

Das einfallende Licht kreist und kreist und kreist über den Steinboden der Emmauskirche in Kreuzberg. Ein Steinway-Flügel, nah dem verhüllten Altar aufgebaut zwischen langen Vorhängen, die aus einigen Metern diagonal zum Boden hinabgleiten, wirft einen langen Schatten, der langsam zu pulsieren scheint. Mal stärker, mal schwächer wirkt er – je nachdem, wo der Lichtkegel gerade hinfällt.

Der Tänzer, der den Flügel umkreist, stoppt immer wieder: Aufrechte, fast harte Posen, die Arme und Beine stehen ab. Am Instrument sitzt der Pianist Moses Yoofee, der träumerische Akkorde übereinanderschichtet. „I noticed the sun, rolling past my window today“, hört man die Erzählerin sprechen. Eine junge Frau nähert sich der Szene. „And so am I, repeating my steps. Dancing my cycles“.

Selbstermächtigung durch Schönheit

„Wir hatten diese Idee eines Konzeptfilms, der das Thema Zirkularität erforscht anhand von immer wiederkehrenden Motiven“, erzählt Dhanesh Jayaselan an einem sonnigen Nachmittag in einem Kreuzberger Café. Wir, das ist Jayaselan und sein Partner Sydney Nwakanma, die vergangenes Jahr gemeinsam das Cycles Collective gründeten. „Als die Idee aufkam, fragten wir uns: Wie können wir Zirkularität als menschliche Erfahrung interpretieren und dabei all die künstlerischen Medien verwenden, die wir lieben?“

Das Kollektiv ist nicht nur ein Filmteam. Was auch daran deutlich wird, dass es am Mittwochabend das XJazz-Festival mit einer Zeremonie eröffnet, die Musik, Poesie und mehr einschließt. XJazz, das seit 2014 in Berlin stattfindet, gehört zu den wichtigsten deutschen Jazzfestivals.

Diesmal sind unter anderem Stars wie Theo Croker, Avishai Cohen, Melanie Charles und José James dabei. Zudem spannende neuere Acts wie Emma-Jean Thackery, Lady Blackbird, die Berliner Band Jembaa Groove und viele weitere.

Das Cycles Ensemble, das neben Moses Yoofee aus der Bassistin Sofia Eftychidou und dem Saxofonisten Marius Dick besteht, wird in der Emmauskirche spielen – ebendort, wo die Filmszenen gedreht wurden. Zu ihnen stoßen die Harfistin Miriam Adefris und der Synthesizer-Klangkünstler Robi.

Überdies spielt die Berliner Neo Soul-Künstlerin Mulay und ihre Band sowie ein Trio um den Drummer Ziggy Zeitgeist, den Keyboarder und Producer Abasé sowie Moses Yoofee – die alle drei als Bandleader in Berlin mit einem clubaffinen Jazzsound für Aufsehen sorgen.

[Das XJazz Festival läuft bis 8. Mai. Mehr Informationen hier. Die Eröffnungszeremonie findet 4. Mai um 20 Uhr in der Emmauskirche in Kreuzberg statt.]

„Wir verstehen das Programm des Abends als ganzheitliche sinnliche Erfahrung. Sogar der Duft beim Betreten des Ortes spielt eine Rolle“, erzählt Jayaselan. „Musikalisch ist es etwas Besonderes, weil alle extra für diesen Abend zusammenkommen“, sagt der 25-Jährige. Und wagt eine Prognose: „Es gibt so viel Talent in dieser Stadt. Die Leute, die darüber Bescheid wissen, sind meist selber Teil der Szene. Wir wollen, dass dieses Event auch in anderen Kreisen Wellen schlägt.“

Die Bassistin Sofia Eftychiou spielt bei der XJazz-Eröffnung als Mitglied des Cycles Ensembles.
Die Bassistin Sofia Eftychiou spielt bei der XJazz-Eröffnung als Mitglied des Cycles Ensembles.

© Cycles Collective

Das Talent, das er meint, hat sich auch während der Pandemie weiterentwickelt. Vielfältige musikalische Synergien und kleinere Szenen sind entstanden. Eine wichtige Rolle spielen dabei Eventreihen wie die Cassette Head Sessions, eine wöchentliche Jam-Session im Keller der Filmkunstbar in Kreuzberg, die auf einem Multitrack-Kassettenrekorder aufgenommen wird. Viele der Künstler*innen aus Berlin, die am Mittwoch in der Emmauskirche und auch im restlichen XJazz-Programm vertreten sind, spielen dort regelmäßig, begleiten einander.

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Jayaselan, der 2019 nach Berlin kam, entwickelte dort seinen Draht zu der lokalen Szene. Mit einer Kamera fing er an, die Konzerte und Sessions zu dokumentieren – „um das Material auch zehn Jahre später noch zu haben“, wie er sagt. Seinen Partner Sydney Nwakanma traf er auf dem Basketballplatz. Nwakanma ist neben der filmischen Arbeit Modedesigner, lässt für sein Label „Emeka“ in Kenia aus Stoffen, die aus europäischen Altkleidertonnen stammen, Anzüge schneidern.

Die beiden teilen kreative Interessen, wichtiger aber noch ist ihr gemeinsames künstlerisches Ethos. „Unser Storytelling soll das Schöne, das in uns ist, porträtieren. Das soll durch die Unterdrückung durchscheinen und uns selbst ermächtigen – mit kindness“, so Dhanesh Jayaselan. Trotzdem hat das Team auch ganz konkrete Ziele. Eines davon ist, mehr People of Colour nicht nur vor, sondern auch hinter die Kamera zu bringen. Denn ein Filmset sei kein Set, wo man sich nervös fühlen sollte – wegen der Zusammensetzung der Crew. Jayaselan ist mit indischen Wurzeln in Malaysia und Australien aufgewachsen, Nwakanma als Deutsch-Nigerianer in Hamburg.

Klaus Lederer war noch nie beim XJazz

Der Cycles-Kurzfilm markierte den Anfang der Zusammenarbeit mit dem XJazz-Festival. Nicht nur die Emmauskirche als Drehort wurde vom Festivalteam zur Verfügung gestellt, sondern auch Fördergelder. Das Festival findet nach zwei Jahren Corona-Pause zum ersten Mal wieder mit Publikum statt. „2019 war eines unserer erfolgreichsten Jahre“, sagt Festivalleiter Sebastian Studnitzky wenige Tage vor dem Beginn am Telefon, „dann kam das ganze Corona-Ding“.

Doch der 49-Jährige blickt auch positiv auf die Zeit: „Wir haben extrem viel gelernt, konnten uns neu aufstellen“. Sebastian Studnitzky ist Trompeter, Pianist und Komponist, er hat das Festival von Anfang an aus Musiker*innen-Perspektive konzipiert.

Der Tänzer Exocé Kango in einer Filmszene.
Der Tänzer Exocé Kango in einer Filmszene.

© Cycles Collective

Das merkt man dem Programm an: Die Sängerin und Bassistin Natalie Greffel zum Beispiel tritt nicht nur auf, sondern fungiert auch als Gastkuratorin. „Ich habe ihre Abschlussprüfung am Jazz-Institut Berlin gehört und sie dann sofort gebucht. Seitdem hat sie bestimmt vier oder fünf Mal bei uns gespielt“, sagt Studnitzky.

Und macht kein Geheimnis daraus, dass man sich auch abgrenzen will: „Wir haben uns gegründet als Gegenbewegung zum Jazzfest Berlin. Damals war das noch in Männerhand, das waren intellektuell zusammengewürfelte Bands – wir hatten ein deutlich jüngeres Programm und Publikum.“ Dass das Jazzfest Berlin – unter dem Einfluss der Leiterin Nadin Deventer – mittlerweile neue Wege geht, hat sicherlich auch mit dem Einfluss des XJazz Festivals zu tun. Kürzlich hat XJazz den Deutschen Jazzpreis für das Festival des Jahres gewonnen.

Nur im kulturpolitischen Kosmos der Hauptstadt scheint das noch nicht so recht angekommen zu sein, meint Studnitzy. „Wir waren bisher immer eher die Kellerkinder der deutschen Jazzfestivals. Klaus Lederer war bei uns noch nie zu Besuch.“ Bis Sonntag hat der Kultursenator von Berlin zahlreiche Chancen, das nachzuholen.

Ken Münster

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