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Regisseur Alfonso Cuarón hat mit "Roma" eine Hommage an das Hausmädchen gedreht, das ihn großzog.

© Netflix/Carlos Somonte

Cuaróns "Roma" auf Netflix: Bilderpracht und Branchenkrieg

Der schönste Film des Jahres: Alfonso Cuaróns Kindheitserinnerung „Roma“ kommt nur kurz ins Kino. Und läuft dann auf Netflix.

Zuerst dringen nur Geräusche ans Ohr. Schritte, Hundegebell, ein Besen, Autos – der Sound eines Hofs, einer Straße, einer Stadt. Bodenkacheln kommen ins Bild, ein Schwall Putzwasser, die Wolken spiegeln sich darin. Ein Flugzeug quert das Himmelsgeviert, die große Welt im Kleinen, so beginnt es. Mit dem Himmel in einer Pfütze.

Der mexikanische Regisseur Alfonso Cuarón hat mit Werken wie „Gravity“ und „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ in Hollywood Karriere gemacht, jetzt kehrt er nach Hause zurück. Nach Roma, dem bürgerlichen Viertel von Mexiko City, in dem er aufwuchs. In seine Kindheit Anfang der 70er Jahre. Das Elternhaus, das Mobiliar, die Autos, die WM-Poster, die Physiognomie der Protagonisten – alles entspricht exakt Cuaróns Erinnerung. Und dem, was er sich von „Libo“, Liboria Rodríguez, dem Dienstmädchen der Familie erzählen ließ. „Es ist mein erster Film“, sagt Cuarón, „der, den ich immer schon machen wollte.“

„Roma“ erzählt auch vom Zusammenhalt der Frauen

Auf der Leinwand heißt sie Cleo. Sie wäscht, bügelt, räumt auf, kocht mit Adena, die auch aus dem Dorf kommt, schrubbt im Innenhof die Hundehaufen weg, weckt die vier Kinder, bringt sie ins Bett. Von früh bis spät hält sie den Laden zusammen – um nachts mit Adena in ihrer winzigen Kammer noch kichernd Gymnastik zu machen. Bei Kerzenschein; die Herrschaft will Strom sparen.

Cleo, gespielt von der Laiendarstellerin Yalitza Aparicio, die tatsächlich vom Dorf kommt, ist das stille Gravitätszentrum von „Roma“. Eine kleine, korpulente, junge Frau aus dem Dorf, Analphabetin, manchmal wechselt sie vom Spanischen ins indigene Mixtec. Was immer geschieht, sie bleibt freundlich, kann mit geschlossenen Augen auf einem Bein stehen und strahlt eine innere Würde aus, die Sofia (Marina de Tavira), der Herrin des Mehrgenerationenhaushalts, abgeht. Dabei gibt es genug, was Cleo aus der Ruhe bringen könnte. Ein Erdbeben, soziale Unruhen, eine Totgeburt, eine Feuersbrunst, ein Badeunfall am Meer – und die treulosen Männer. Der Familienvater trennt sich, zieht aus, was Sofia den Kindern lange verschweigt. Cleo wird schwanger von Femin, einem Paramilitär und Martial-Arts-Afficionado, der sie ebenfalls sitzenlässt. „Roma“ erzählt auch vom Zusammenhalt der Frauen.

Alfonso Cuarón drehte in Schwarz-Weiß - mit verblüffender Plastizität

Und vom Politischen im Privaten. Für das Corpus-Christi-Massaker im Juni 1971, bei dem paramilitärische Truppen 120 Studenten töteten, findet Cuarón wenige, schockierende Bilder. Die Tatsache, dass die Mittelschichtsfamilie über ihre Verhältnisse lebt, beschert dem Zuschauer komische Momente, wenn der Ford Galaxy in die Einfahrt hinter dem Eisentor manövriert werden muss – Millimeterarbeit, die nicht immer gelingt. Oder der groteske Charme der Bourgeoisie, der reichen Verwandtschaft mit ihrer Hacienda voller ausgestopfter Tiere.

Alfonso Cuarón zeichnet für Regie, Script und Schnitt verantwortlich, er hat auch die Kamera geführt und auf 65 Millimeter gedreht, in Schwarz-Weiß. Kein nostalgisches Rückblenden-Schwarz-Weiß, sondern ein digitales, mit tausend Farben Grau und einer verblüffenden Plastizität. „Roma“ macht die Vergangenheit gegenwärtig, man lebt in ihr. In dem Patio mit den Hundehaufen, den Vogelkäfigen, der Eisenstiege zum Dach. Die Kamera wird zur Komplizin von Cleo, mit der gleichen Wachsamkeit, Tüchtigkeit, Diskretion. Die Darsteller erhielten nur die Dialoge für den jeweiligen Tag. Das Leben kennt auch kein Drehbuch.

„Roma“ ist der schönste Film des Jahres

„Roma“ ist der schönste Film des Jahres, in Venedig gewann er den Goldenen Löwen. Ein Glück, ein Trauerspiel: Der Film wird von Netflix herausgebracht, weltweit online ab 14. 12., limitiert vorab im Kino. Sehr limitiert. Mehr als der CoenWestern „The Ballad of Buster Scruggs“, der hier nur online startete, markiert „Roma“ eine Zeitenwende: den Beginn einer Ära, in der die Magie der Leinwand auch Filmen verwehrt bleibt, die ihre Magie erst im großen Format entfalten.

Nicht dass Netflix den Kinos „Roma“ vorenthält, es ist komplizierter. Die Filmtheater wollen sich nicht auf die Netflix-Bedingungen einlassen, auf den nur einwöchigen Vorlauf und das Verbot, Zuschauerzahlen zu veröffentlichen. In Deutschland gilt ein Verwertungsfenster von 120 Tagen. So lange werden Filme exklusiv von den Kinos ausgewertet, bevor sie auf DVD oder als VoD herauskommen. Eine Schutzmaßnahme für die vom Aussterben bedrohten Kinos, an die sich auch jene halten, die keine deutschen Fördergelder beanspruchen. Netflix ignoriert diese Frist, die in Frankreich drei Jahre beträgt, in den USA 90 Tage.

Bedingungen, "die das Kino zerstören"

„Wir hätten den Film gerne gezeigt, aber nicht unter Bedingungen, die das Kino zerstören“, sagt Christian Bräuer, Vorsitzender des Verbands AG Kino und Geschäftsführer der Berliner YorckFilmtheater. Der Arthouse-Kette war „Roma“ angeboten worden, zunächst zeitgleich zum Online-Start, dann mit einwöchigem Vorlauf. Das lehnte sie ab. „Die Kino-Auswertung wird zum Promotion-Tool für den Plattformstart“, sagt auch der andere Yorck-Chef, Georg Kloster. Cuarón, die Coens und 2019 Scorseses 100-Millionen-Dollar-Film „The Irishman“: Netflix entzieht dem Arthouse-Markt die Talente, fügt Kloster hinzu.

Die meisten Kinos sehen das so. In Frankreich kommt „Roma“ überhaupt nicht auf die Leinwand, in den USA nur vereinzelt, in Deutschland in 38 Filmtheatern. In Berlin im Cinestar im Sony-Center und in der Kulturbrauerei. Und zwar als Sonderveranstaltung, die von der 120-Tage-Regel ausgenommen ist, mit wöchentlich maximal drei Terminen. Kurz: „Roma“ ist in der Filmmetropole sage und schreibe nur sechsmal zu sehen. Und in der Folgewoche? „Weitere Spielzeiten sind bis jetzt nicht geplant“, so Cinestar-Geschäftsführer Oliver Fock vage.

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Seit Monaten äußert sich Netflix nicht zu den Vorwürfen. Auf Nachfrage wird man auf die Firmenphilosophie der sofortigen Verfügbarkeit verwiesen und auf das Statement von Netflix-Filmchef Scott Stuber, demzufolge die Abonnenten in 190 Ländern und die Regisseure Priorität genießen. Ein bedenkenswertes Argument: Warum sollen die Kunden für ihr Geld neben Serien nicht auch Qualitätsfilme sehen können? Warum soll Netflix mit „Roma“ nicht ins Oscar-Rennen gehen – auch deshalb der „Kinostart“ –, und auf den Festivals reüssieren, was Cannes bisher verweigert? Was zählt, die Filmqualität oder die Art der Auswertung? Und warum sollen Autorenfilmer nicht davon profitieren, dass gerade erbittert um die Zukunft des Films gekämpft wird, zwischen Studios wie Disney und Warner, die ins Streaming-Milliardengeschäft einsteigen, und Streamingriesen wie Netflix und Amazon, die ins Kino drängen?

Gibt es eine gute Lösung für alle?

„Netflix versucht, alles platt zu walzen, was dem eigenen Profit im Weg steht, und sich anzueignen, was diesem Ziel dient,“ sagt Christian Bräuer. „Verständlich aus dem Blickwinkel eines Erzkapitalisten. Traurig für die Filme, denn gute Lösungen für alle wären im Sinne der Liebe für die siebte Kunst möglich." Wenn Netflix sich an die Regeln hält, zeigen die Kinos gerne auch Netflix-Filme.

Filme für alle, überall, jederzeit – und fürs Gemeinschaftserlebnis tummelt man sich einmal im Jahr auf der Berlinale? Wer für die Allverfügbarkeit von Bewegtbildern plädiert, muss in Kauf nehmen, dass in kleineren Städten bald gar keine Kinos mehr existieren. Und dass die stille Bilderpracht von „Roma“ nicht ihr Publikum findet: Regisseur Cuarón bittet die Netflix-Zuschauer jedenfalls darum, die glättende Motion-Smoothing-Funktion am Fernseher auszuschalten und etwas Geduld zu haben. Welcher Serienfreak schaut sich schon einen nicht auf Cliffhanger hin gestrickten, oft zwischen den Zeilen erzählenden 135-Minuten-Film bis zu Ende an? Dass „Roma“ selbst in Mexiko nur in gut 50 Kinos läuft, ärgert Cuarón. Wobei er seltsamerweise die Kinos kritisiert. Sind ihm deren Existenznöte egal?

Jeder für sich - davon erzählt auch das Kino

Cuarón weckt in seinem zutiefst persönlichen Film auch ein Gespür für die Zeit, für das Trudeln der Erinnerung. Bei aller Liebe zu der Frau, die ihn aufzog, macht er sich keine Illusionen über die Klassengesellschaft. Cleo mag zur Familie gehören, sie bleibt immer im Dienst. Egal wie schwanger sie ist, egal welche Heldentat sie vollbringt. Bis zuletzt klettert sie aufs Dach, um die Wäsche von Hand zu schrubben, zur Musik aus dem Kofferradio. Überall auf den Dächern: Wäsche, Radios, indigene Dienstmädchen. Alleine die Tonspur braucht mindestens Dolby Atmos.

„Unsere Existenz ist nichts anderes als die Erfahrung von Einsamkeit, die wir teilen“, sagt Alfonso Cuarón. Einmal sitzt allein Cleo im Kino, Femin hat sie gerade sitzen gelassen. Auf der Leinwand eine britische Komödie über ein ulkiges Himmelfahrtskommando. Der Himmel in einer Pfütze: Wo, wenn nicht im Kino, ließe sich davon erzählen.

„Roma“ läuft ab Donnerstag, 6.12., im Cinestar Sony-Center und im Kino in der Kulturbrauerei, zunächst drei Mal. Am Donnerstag um 20 Uhr, am Sonntag um 17 Uhr, am Mittwoch, dem 12.12., um 14 Uhr. Ab Freitag, den 14.12., online auf Netflix.

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