zum Hauptinhalt
Der Tagesschau-Sprecher, Fernsehjournalist und Schriftstller Constantin Schreiber

© ausblenden.de/Marlene Gawrisch/Hoffmann und Campe

Constantin Schreibers Roman "Die Kandidatin": Vor dem Vielfaltsförderungsgesetz sind alle gleich

In der Spur von Michel Houellebecq: „Die Kandidatin“, Constantin Schreibers provokanter Roman über eine muslimische Bundeskanzlerin.

Anfang 2015 erschien „Unterwerfung“, eine von Michel Houellebecq im Jahr 2022 angesiedelte literarische Fantasie über ein Frankreich, das einen muslimischen Präsidenten wählt. Nun hat Constantin Schreiber das Motiv aufgegriffen. In seinem Roman „Die Kandidatin“ (Hoffmann und Campe, Hamburg 2021. 208 S., 22 €.) geht es um die erste muslimische Kanzlerkandidatin in einer zeitlich unbestimmten Zukunft.

Sabah Hussein und ihr naher Wahlerfolg sind Resultate einer längeren, stetigen Entwicklung in Deutschland, in der sich alles um Diversität dreht, und Schreibers Roman fackelt da nicht lange. „,Wollt ihr absolute Diversität?’, schreit ein junger Mann mit Vielfaltsmerkmal ins Megaphon“. Das ist doch mal ein erster Satz.

Die Handlung ist schnell erzählt: Sabah Hussein, vom Flüchtlingskind zur Kanzlerkandidatin aufgestiegen, sieht ihre Kampagne in Gefahr, nachdem verschiedenen Journalisten belastendes Material zugespielt wurde. Von wem, ist unklar.

Die Nofretete wurde nach China verkauft

Dass es veröffentlicht wird, spielt kaum eine Rolle. Nicht nur, weil die Gesellschaft so tief gespalten ist, dass sich bei den Wenigsten noch eine Änderung der Meinung herbeiführen ließe. Sondern weil sich nach einem Attentat auf Sabah Hussein niemand für alte Geschichten interessiert. Die Politikerin überlebt jedoch den Anschlag. Der Roman endet wenige Minuten vor der Schließung der Wahllokale, als Sabah Hussein, wieder in ihrem Büro, den historischen Triumph erwartet.

Wir könnten das Buch sofort vergessen, wäre da nicht das bemerkenswerte, ja atemberaubende Bild von Deutschland und der Welt, das Schreiber in zahllosen Details entwirft: Das ehemalige Ernst-Abbe-Gymnasium ist jetzt die Präsident-Erdogan-Schule; eine Oury-Jallow-Schule wird ebenfalls erwähnt. Die Nofretete, die, verbunden mit einer Riesenentschädigung, nach Ägypten ging, wurde von dort nach China verkauft, wo sie nun ausgestellt ist, während ihr vormaliger Standort, das Neue Museum in Berlin, zum „Antirassismusmuseum“ umgebaut wird.

China ist auch der Hort (oder das Exil) abendländischer Kultur; das schönste „Ave Maria“ wird von einer Chinesin gesungen. Eine ranghohe muslimische Richterin trägt im Gerichtssaal etwas, das weithin nur als „Hijab“, aber keinesfalls mit dem „K-Wort“ benannt werden darf. (Als Sabah Husseins biodeutschem Gegenkandidaten ausgerechnet im Fernsehduell das „K-Wort“ rausrutscht, ist er geliefert.)

Karriere macht nur, wer viele "Vielfaltsmerkmale" hat

Vor derlei Einfällen strotzt der Roman nur so. Doch das Kernstück der Schreiberschen Zukunftsfantasien ist zweifellos das „Vielfaltsförderungsgesetz (VifaföG)“, das in all seiner kalten Effizienz wörtlich in diesen Roman Eingang findet und die Wertordnung illustriert, die Constantin Schreiber dem zukünftigen Deutschland mitgibt.

Das Vielfaltsförderungsgesetz regelt, dass beruflicher Aufstieg an bestimmte „Vielfaltsmerkmale“ (z.B. weibliches Geschlecht, nichtweiße Hautpigmentierung, muslimischer Glaube, Behinderung, Homosexualität) geknüpft ist, und dass es nicht nur für Führungspositionen, sondern für jederlei Stellen Quotenregelungen gibt. Je mehr Vielfaltsmerkmale ein Mensch hat, desto mehr Trümpfe hält er in der Hand und desto leichter ist beruflicher Aufstieg.

Wer diesen Pageturner als „skandalös“ tituliert, als „Machwerk“, „schmutzige Fantasie“ und was für Bezeichnungen noch auf „Die Kandidatin“ herabregnen werden, möge bedenken, dass alle Details, mit denen Schreiber die Zukunft ausmalt, den laufenden Debatten entnommen sind. Er hat die Forderungen und Empfindlichkeiten der Diversitätsaktivisten jedweder Couleur und Partei bloß gesammelt und zu einem Gesamtbild vereint.

Integration und Diversität bedingen einander

Der Roman provoziert mit der Frage, ob uns das, was uns Schreiber zeigt, gefällt. (Ich kann das mit einem Nein beantworten, und das liegt nicht an Schreiber, sondern an der Wirklichkeit, bei der er sich bediente.) Doch wer die einschlägigen Debattenmuster kennt, weiß, dass eher diskutiert wird, ob muslimischen Aktivisten missfällt, wie sie bei dem Ganzen wegkommen.

Deutschlands Geschichte als Einwanderungsland ist so jung, dass nach wie vor Unklarheiten und Ungenauigkeiten über die Begrifflichkeiten bestehen. Multikulti, Leitkultur, Rassismus, Diversität, doppelte Staatsbürgerschaft, Integration, Assimilation – wo begriffliche Trennschärfe gefragt ist, finden wir uns oft nur in einem Wortbrei wieder.

Potenziert wird das noch durch die – meist angelsächsisch geprägte – Achtsamkeitsrhetorik und politische Korrektheit. Zahllose Biodeutsche (besonders im Osten oder im ländlichen Raum) haben in ihrem Alltag kaum interkulturelle Berührungspunkte, geschweige denn interkulturelle Freundschaften.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

In diesem Klima gedeihen Projektionen, ob als Ängste oder Romantisierungen. Constantin Schreiber verdanken wir, dass er den zu Romantisierungen einladenden Begriff „Diversität“ einmal mit literarischen Mitteln untersucht. Dabei kommt heraus: Ohne Integration ist Diversität ein Instrument der Spaltung. (Umgekehrt gilt natürlich: Ohne Diversität ist Integration keine Herausforderung.)

Constantin Schreiber ist nicht irgendwer, und schon gar nicht ist er nur der Sprecher der „Tagesschau“. Er war Redakteur des Medienmagazins „Zapp“, ist Grimme-Preisträger, Menschenrechtsaktivist mit Engagement im arabischen Raum und Autor mehrerer islamkritischer Sachbücher, etwa des Bestsellers „Inside Islam – Was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird“.

Er ist der lebende Gegenbeweis für gängige Vorurteile, wonach Islamkritiker rechtsdumpfe Fremdenfeinde und der Staatsfunk eine linksgrün versiffte Verschwörung sind.

Sicher wird „Die Kandidatin“ mit dem Argument „Ist ja nun alles andere als große Literatur“ kleingeredet. Das mag sein. Aber dann ist es der Klassiker „1984“ auch nicht. Wie das Vorbild hat Schreiber Ängste seiner Gegenwart ernst genommen, weitergedacht und zu einem Gesamtbild verdichtet. Er hat einen Roman geschrieben, über den in den kommenden Wochen und Monaten heftig gestritten wird. Wer ihn nicht gelesen hat, wird nicht mitreden können. Dass ihn Klagenfurt ignoriert, wird er verschmerzen können.

Thomas Brussig

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false