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Auf verlorenem Posten: Eine Szene aus „Im Auge des Zyklons“.

© avant

Zeitgeschichte im Comic: Down Under zieht in den Krieg

Eine tragische Familiensaga am Vorabend des Zweiten Weltkriegs: Der Comic „Im Auge des Zyklons“ gewährt spannende Einblicke in das Australien der 1940er Jahre.

Australien ist nicht unbedingt das erste Land, das einem einfällt, wenn es um die Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs geht. Doch auch der abgelegene Insel-Kontinent wurde 1942 in die Wirren des Krieges hineingezogen und hatte am Ende mehr als 30.000 gefallene Soldaten zu beklagen.

Der Krieg ist jedoch nur der Rahmen und nicht der Schauplatz des Comics „Im Auge des Zyklons“ (aus dem Englischen von Benjamin Mildner, avant, 288 S., 29 €), der ersten deutschsprachigen Veröffentlichung des australischen Comickünstlers Bruce Mutard. Geschildert wird die wechselhafte Geschichte des Pazifisten Robert Wells und seiner Familie zwischen 1939 und 1944, mit der Mutard ein umfassendes Gesellschaftsporträt der gehobenen Mittelschicht am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zeichnet.

Robert Wells ist leitender Angestellter in der Fabrik seines Onkels in Melbourne, dessen reaktionäre Ansichten nicht gerade mit Wells links-liberaler Haltung zusammenpassen. Wells ist Intellektueller, Pazifist, gläubig, aber nicht religiös, und kritisiert den Kommunismus wie den Faschismus gleichermaßen. Damit macht er sich nicht viele Freunde; in einer Zeit der Polarisierung und Konfrontation geraten Menschen, die keinem Lager zugehören möchten, schnell unter die Räder.

Der Krieg spaltet die Familie

Je näher der Weltkrieg Australien kommt, desto mehr bröckelt der Konsens zwischen Wells und seinen Freunden und Verwandten, sich nicht zum Militär zu melden und sich an dem fernen Konflikt zu beteiligen. So wie viele Menschen in dieser Zeit, die sich noch an die sinnlosen Materialschlachten den Ersten Weltkriegs erinnern, aber andererseits die wachsende Bedrohung durch die Achsenmächte realisieren, ringt Wells mit seinen moralischen Grundsätzen.

Sein Bruder Artie hingegen meldet sich sofort zum Militär, als Australien offiziell in den Krieg eintritt, seine Mutter ist verzweifelt und fürchtet einen weiteren Verlust, nachdem bereits ihr Mann im Krieg gefallen ist, währenddessen Wells kommunistische Freundin mehr Solidarität im Kampf gegen das Kapital einfordert.

Als Juden aus Österreich geflohen, in Australien als Nazis diffamiert

Nach und nach kommen immer mehr Flüchtlinge aus Europa nach Australien, darunter die Familie Krauthammer: Die österreichischen Juden sind vor den Nazis geflohen, nachdem die Nazis ihr Heimatland besetzt hatten. In Australien werden sie jedoch keineswegs mit offenen Armen empfangen: Hier werden die Krauthammers aufgrund ihrer Sprache als Deutsche angesehen und als Nazis diffamiert.

Eine weitere Seite aus „Im Auge des Zyklons“.
Eine weitere Seite aus „Im Auge des Zyklons“.

© avant

Ähnlich wie Wells gehören sie keinem Lager an; er entschließt sich, ihnen in seiner Wohnung Unterkunft zu gewähren. Dass sich der alleinstehende Wells mit der frühreifen Tochter Mata der Krauthammers anfreundet, wird dabei von beiden Familien mit großem Argwohn betrachtet. Während Wells sich als ihr Beschützer versteht, hat Mata zunehmend genug von ihrer strengen Familie und geht heimlich mit Soldaten aus.

Eine Zeit moralischer Prüfungen

Schnell wird deutlich, dass das Australien Mitte des 20. Jahrhunderts nicht unbedingt ein Hort der Freiheit war: Mutard zeigt uns eine überaus sexistische und chauvinistische Gesellschaft voller Vorurteile, in der mit der Dauer des Krieges immer mehr Bürgerrechte eingeschränkt und Minderheiten diskriminiert werden.

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Mit dem National Security Act agiert die australische Regierung deutlich autoritär, die Meinungsfreiheit wird beschnitten und viele Medien quasi gleichgeschaltet. Auch die Firma von Wells Onkel wird auf Kriegsindustrie umgestellt; obwohl das Land selbst so gut wie gar nicht zum Schauplatz der Kämpfe wird, beherrscht der Krieg bald das Leben aller Australier. Irgendwann meldet auch Wells sich zum Militärdienst.

Mata ist – wie der Krieg – eine Prüfung für Wells Moral. Indem er versucht, das Richtige zu tun, gerät er immer wieder in problematische Situationen, die sein Handeln nach außen hin als falsch erscheinen lassen. Die eigensinnige Mata spiegelt aber auch Roberts Verhältnis zur reaktionären australischen Regierung: In beiden Fällen kämpft er eigentlich auf verlorenem Posten für jemanden, der beziehungsweise die ihm seine Bemühungen nicht dankt.

Historische Genauigkeit sorgt für Authentizität

Ein Großteil des Comics zeigt die Familie Wells und ihre Freunde bei abendlichen Treffen, beim Mittagessen, beim Picknick oder beim Spaziergang. Man ist gebildet, man ist politisch, man diskutiert sehr viel.

Was auf den ersten Blick als etwas dröge Art des Erzählens erscheint, erweist sich dank der gut ausgearbeiteten Charaktere bald als große Stärke des Comics: Man sitzt immer wieder mit der Familie gemeinsam am Küchentisch, lauscht den Gesprächen der Protagonisten und hat am Ende fast das Gefühl, als habe man all das mit ihnen zusammen durchgemacht.

Das Titelbild des besprochenen Bandes.
Das Titelbild des besprochenen Bandes.

© avant

Die vielen historischen Details, die immer wieder in die Gespräche eigeflochten sind - von den Verfehlungen lokaler Politiker bis hin zu australischen Sprichwörtern und Kinderbuchfiguren – sorgen über die gesamte Länge des Comics für Authentizität, ohne jene Leser:innen zu überfordern, die sich noch nie mit australischer Geschichte oder kulturellen Eigenheiten des Landes beschäftigt haben.

Auch ohne diese Kenntnisse bleibt „Im Auge des Zyklons“ gut verständlich, denn letztlich geht es – wie in jeder Geschichte, die von Familie und Krieg handelt – um universelle Fragen: Was bedeutet Verantwortung? Was ist nationale Identität? Ist Kriegsdienst unmoralisch, wenn es einem höheren Ziel dient? Wofür lohnt es sich, zu kämpfen oder Opfer zu bringen?

37 neue Seiten für die deutsche Ausgabe

Mutards realistischen Schwarz-Weiß-Zeichnungen unterstreichen den dokumentarischen Anspruch des Comics, der im Original bereits 2008 unter dem Titel „The Sacrifice“ veröffentlicht wurde. Man merkt den Bildern die Recherche an, die der Autor angestellt hat, um das Melbourne der damaligen Zeit mit seinen herausgeputzten Straßen, hübschen Badestränden, tristen Vorstädten und biederen Kleinbürger-Häusern wiederauferstehen zu lassen.

[Weitere Comics zu historischen Themen stellen wir in diesen Rezensionen vor: Am Rande des Abgrunds, Ein Hotelpage im Krieg, Wie ein Architekt die Historie des Berliner Schlosses als Comic erzählt.]

Trotz des großen Formats des Comics fällt dabei allerdings auf, dass die Schrift recht klein geraten ist, was das Lesen über längere Strecken etwas ermüdend macht. Allerdings gibt es einen kleinen Bonus für alle deutschen Leser:innen: Mutard hat extra für die deutsche Ausgabe eine Zweitfarbe angelegt und zudem exklusiv 37 neue Seiten gezeichnet, die die Geschichte deutlich abrunden.

„Im Auge des Zyklons“ ist ein ambitioniertes Werk: Geschickt verbindet Mutard die tragische Familiensaga der Wells mit den historischen Geschehnissen und viel Lokalkolorit. Damit gelingt es ihm nicht nur, eine glaubwürdige Geschichte über das Auseinanderfallen von Familie und Gesellschaft zu erzählen, sondern nebenbei auch noch die eine oder andere Bildungslücke über die Geschichte Australiens zu schließen.

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