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Zeichnen, zeichnen, zeichnen! Tatsumi in einem Selbstporträt als junger Mann auf dem Cover der deutschen Ausgabe seiner Autobiografie.

© Carlsen

Yoshihiro Tatsumi 1935 - 2015: Der Schattenmann - ein Nachruf auf Yoshihiro Tatsumi

Außenseiter und Verlierer waren seine Helden. Jetzt ist Manga-Altmeister Yoshihiro Tatsumi mit 79 Jahren gestorben. Vor einem Jahr hatte der Tagesspiegel ihn in Tokio besucht - ein persönlicher Nachruf.

Seinen Tod hatte er schon hinter sich. Als der Tagesspiegel den Manga-Zeichner Yoshihiro Tatsumi vor gut einem Jahr in Tokio zum Interview traf, drehte sich das Gespräch nicht nur um seine Arbeit und seinen Blick auf die japanische Gesellschaft, wie es geplant war. Sondern es ging um Krankheiten, Alterssorgen und das Ende des Lebens. Der damals 78-jährige Tatsumi, einer der bedeutendsten Manga-Autoren des 20. Jahrhunderts, kam zum Gespräch bei seinem japanischen Verlag mit einem Gehstock, kurz zuvor hatte er eine Hüftoperation überstanden.

Und dann erzählte er von einer kuriosen Meinungsverschiedenheit mit seinem nordamerikanischen Verlag Drawn & Quarterly: Der hatte ihm angeboten, eine Fortsetzung seiner erfolgreichen Autobiografie zu zeichnen, deren erster Teil unter dem Titel „Gegen den Strom“ vor drei Jahren auch auf Deutsch erschienen ist. Tatsumi willigte ein, verarbeitete die zweite Hälfte seines bewegten Lebens auf 500 Seiten – und ließ sein gezeichnetes Alter Ego sterben. Da erhob sein Verleger Einspruch, wie Tatsumi schelmisch lächelnd erzählte. „Er ist vehement gegen meinen Tod – er will lieber weitere Fortsetzungen veröffentlichen.“

Nun wird es keine Fortsetzungen mehr geben. Yoshihiro Tatsumi ist am Sonnabend in Tokio mit 79 Jahren gestorben, wie Drawn & Quarterly bestätigte. Wie seine japanische Agentin Chigusa Ogino dem Tagesspiegel am Dienstag mitteilte, hatte er wegen einer Entzündung der Lymphgefäße und Lymphknoten lange Zeit im Krankenhaus verbracht. Wenige Tage vor seinem Tod hatte sich seine Kondition dann dramatisch verschlechtert. Er soll im engsten Familienrahmen beigesetzt werden, aber es wird eine öffentliche Gedenkfeier in einem Tokioer Kino geben, kündigte Chigusa Ogino an.

Mit der eigenen Vergänglichkeit hatte sich der Autor, der für seinen schonungslosen Realismus gepriesen wurde, zuletzt viel beschäftigt. „Mit zunehmendem Alter merke ich, dass meine körperliche Verfassung nicht geeignet ist, ewig Mangas weiterzuzeichnen“, sagte er bei unserem Gespräch. Auch wenn man in Japan über solche Dinge selten öffentlich spricht, klang das aus seinem Munde ganz natürlich, denn schon in „Gegen den Strom“ ließ er seine Leser unmittelbar an seinem Leben mit allen Höhen und Tiefen teilhaben.

Von Tokio inspiriert und abgeschreckt: Manga-Zeichner Yoshihiro Tatsumi im Büro seiner Agentur im Zentrum der japanischen Hauptstadt.
Von Tokio inspiriert und abgeschreckt: Manga-Zeichner Yoshihiro Tatsumi im Büro seiner Agentur im Zentrum der japanischen Hauptstadt.

© Lars von Törne

Das Buch, das ihn im Westen einer größeren Leserschaft bekannt machte und vielfach ausgezeichnet wurde, schildert den künstlerischen Werdegang Tatsumis vor dem Aufbruch der japanischen Comicszene und dem sozialen Wandel seines Landes nach dem Zweiten Weltkrieg. Ab den späten 1950er Jahren ebneten Tatsumi und seine Mitstreiter neuen Formen der Bilderzählung den Weg, die als „Gekiga“ zur Bewegung werden sollten: ernsthafte, realistische, sozialkritische Geschichten, oft voller Sex und Gewalt – ein radikaler Bruch mit den lange vorherrschenden Kinder- und Gag-Mangas. „Gekiga Godfather“ lautet der Titel einer japanischen TV-Dokumentation über Tatsumi.

Dabei galt Tatsumi im eigenen Land lange Zeit weniger als im Westen. Seine Geschichten über Arme, Süchtige, Verzweifelte und Verlorene in der Großstadt widersprachen dem Selbstbild Japans als erfolgreiche Wirtschaftsmacht, die gut für ihre Bürger sorgt. Im Ausland hingegen erlangte der Zeichner in den vergangenen Jahren Kultstatus, er wurde zu Festivals in Frankreich und Nordamerika eingeladen. Und der Animationsfilm „Tatsumi“ des aus Singapur stammenden Regisseurs Eric Khoo brachte die Bilderwelten des Japaners einem Publikum jenseits der Comicszene näher.

Es sind die Schicksale der kleinen Leute und der Ausgestoßenen, die ihn stets besonders interessiert haben. „Ich betrachte mich durchaus als politischen Manga-Autor“, sagte er in unserem Interview. „Ich richte unwillkürlich mein Augenmerk auf die Armen und andere Menschen, denen es nicht gut geht.“ Ihre Sorgen, Dramen und ihre stille Verzweiflung hat er in meisterhaften Miniaturen eingefangen. Besonders berührend sind seine bislang nur teilweise auf Deutsch veröffentlichten Geschichten immer dann, wenn deutlich wird, dass viele der traurigen Gestalten einst ein glückliches, normales Leben lebten, bis ein äußeres Ereignis sie aus der Bahn warf. Dabei lässt Tatsumi vielen seiner Protagonisten auch Raum, ihre Würde und ihren Stolz zu behaupten – und gelegentlich gönnt er sich und seinen Lesern sogar einen Moment der komischen Entlastung, wenngleich mit einem bitteren Unterton. So bei der der Schilderung der Beziehung eines Mannes zu einer Gummipuppe oder der vorübergehenden Verwandlung eines Liebeskranken in einen Affen.

Den zweiten Teil seiner Autobiografie hatte Yoshihiro Tatsumi vor einem Jahr bereits weitgehend abgeschlossen, sie dürfte demnächst posthum erscheinen. „In meinem Kopf sind noch viele andere Geschichten, die ich erzählen will“, sagte er damals. Viele davon bleiben nun für immer unerzählt.

Künstlerische Selbstfindung: Eine Szene aus Yoshihiro Tatsumis Autobiografie "Gegen den Strom".
Künstlerische Selbstfindung: Eine Szene aus Yoshihiro Tatsumis Autobiografie "Gegen den Strom".

© Carlsen

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