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Die Peitsche als Panel: Eine Bildfolge aus "Bruno Brazil".

© Egmont

William Vance (1935 – 2018): Zwischen Kaiman und Kamikaze

Sein Genre-Klassiker „Bruno Brazil“ beeindruckte vor allem durch ausgefeilte Grafik. Jetzt ist der belgische Comiczeichner William Vance mit 82 Jahren gestorben.

Gegen Ende der 1940er Jahre führte der nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs zwischen den USA und der UdSSR begonnene Wettstreit um die ideologische Vorherrschaft zu einer gewissen Erstarrung und Routine. Die Konfrontation der beiden Machtblöcke wurde zu einem kalten Stellvertreterkrieg zwischen Kapitalismus und Kommunismus, beziehungsweise real existierendem Sozialismus, geführt von Agenten oder Spionen. Schon war ein neuer Abenteuerspielplatz geschaffen, welcher von der Unterhaltungsindustrie umgehend verwertetet wurde.

Als einer der bekanntesten Autoren im Genre des Spionagethrillers gilt Ian Fleming, dessen Figur James Bond vor allem durch diverse filmische Adaptionen bis heute nicht in Vergessenheit geraten ist. Doch Bond war bei weitem nicht der einzige, der die Ideologie der freien Welt verteidigte, ohne diese kritisch zu hinterfragen – abgesehen von Eric Amblers Protagonisten taten das allerdings nur wenige Spione. Und bald bescherte das Fernsehen seinen Zuschauern ebenfalls Agentenabenteuer in Serie. Wenige waren dabei so schräg wie „The Prisoner“ - in Deutschland unter dem Titel „Nummer Sechs“ gezeigt - die zudem zwei Comicadaptionen hervorbrachte.

Während der unkonventionelle „The Prisoner“ also visionäre Geister wie Jack Kirby und Dean Motter inspirierte, bediente sich der Comic sonst häufig und gern bei einer simplifizierten und dadurch den Lesern vertrauteren Grundkonstellation. Die genreübliche Schwarzweißmalerei bot den geeigneten und aufwandsarmen Ausgangspunkt für allerlei thematische Variation. Was per se nichts schlechtes sein muss: Antonio Prohias und dessen Nachfolger Peter Kuper haben das an Hand der im „Mad“-Magazin erschienenen „Spion & Spion“-Geschichten über einen sehr langen Zeitraum hinweg erfolgreich durchexerziert.

 Von der Sättigungsbeilage zum Hauptgericht

 Die beiden Belgier Greg (Michel Régnier) und William Vance orientierten sich zu Anfang ihrer Agentenserie „Bruno Brazil“ Ende der 1960er Jahre ebenfalls an eher bodenständigeren Stoffen. Die Reihe beginnt derart steril, dass selbst verschütteter Kaffee fleckenlose Kleidung hinterlässt. Zu Anfang noch allein agierend, löst der Agent Bruno Brazil in einigen Kurzgeschichten kleinere Fälle, in denen die gängige Durchschnittskost frankobelgischer Comicmagazine geboten wird. Das erste längere Abenteuer im Albenformat um einen flüchtigen Naziverbrecher unterscheidet sich in der Machart nicht sonderlich von dessen Vorgängern, hier wird jedoch bereits die versessene Akribie von Vance bei der Darstellung von Fahrzeugen und Architektur sichtbar.

Doch bald brechen Autor Greg und Zeichner Vance mit den etablierten Traditionen des sich an ein jüngeres Publikum richtenden Magazins „Tintin“. Brazil wird Chef der auf ungewöhnliche Fälle spezialisierten Eingreiftruppe Kommando Kaiman, die sich aus halbseidenen Charakteren rekrutiert und mit ungewöhnlichen Methoden agiert. Daraus entwickeln Greg und Vance ein immer düsterer werdendes Drama, das sich in für damalige Lesegewohnheiten teilweise unkonventionellen Seitenarrangements und einer immer manischer werdenden grafischen Detailtreue vollzieht.

Schwindelerregende Kurvenführung: Eine Panelfolge aus der besprochenen Reihe.
Schwindelerregende Kurvenführung: Eine Panelfolge aus der besprochenen Reihe.

© Egmont

In Folge wird nicht nur im Verlauf der Geschichten liebgewonnenes Handlungspersonal geopfert, es werden überdies bisher gewohnte Sichtweisen des kommerziell auf eine breite Leserschaft ausgerichteten Comics verworfen und neu ausgerichtet.

Damit verändert sich auch langsam der Stil von Vance. Anfangs noch ohne allzuviel eigene Note im in Frankreich und Belgien populären Stil der damaligen Zeit gezeichnet, scheint bald ein skizzenhafterer Strich in Anlehnung an Vances Vorbild Hans G. Kresse durch. Mit der Lockerheit verschwindet die ordentliche Frisur der Hauptfigur, und Vance beweist Selbstsicherheit und vermehrt Mut zum Experiment: Ansichtig wird dies durch Seitenkompositionen, in denen oft großformatige vertikale oder kreisrunde Panels im Blickmittelpunkt platziert werden. Umgeben von kleineren Panels oder in das dominierende Panel hineinragend, wird Dynamik in Echtzeit suggeriert. Diese Vorgehensweise findet in der Kolorierung ihre angemessene Entsprechung: So durchlebt der Gelbton des Pullovers der peitschenschwingenden Whip Rafale aus Brazils Team im Zusammenspiel mit dem roten, sich im Bildhintergrund befindlichen Auto eine Metamorphose, wenn Vance diese Elemente innerhalb eines lediglich durch die Peitschenschnur unterteilten Meta-Panels in brennendem Schmerz münden lässt, welcher mittels orangeroter feuerartiger Farbtöne visualisiert wird.

Ebenso ist eine stilistische Nähe zu US-amerikanischen Comics erkennbar: Jim Sterankos „Nick Fury“ brach, anfangs noch nach Layouts von Jack Kirby gezeichnet, Ende der 1960er Jahre ebenfalls mit einigen vorherrschenden visuellen Dogmen – interessanterweise in einem weitestgehend mit Agententätigkeiten befassten Comic. Der damalige Zeitgeist fand unter anderem Eingang in Form von psychedelischen Mustern, ähnliches betreibt Vance in „Die versteinerte Stadt“, wenn er effektvoll bunte Kreise konträr zum klinischen Design der Umgebung in die Panels integriert. Was Greg und Vance im Gegensatz zu Steranko jedoch nicht passiert, ist die zeichnerische Umsetzung von Handlungen, die bereits im Text beschrieben werden. Beispielhaft hier die Verfolgung der notorischen Kaiman-Gegenspielerin Rebelle durch Brazil und seinen Teamgefährten Gaucho Morales, in der geschickt Aktion durch einen in das Panel hineinlaufenden Fahrbahnstreifen, Perspektivwechsel und den dazu parallel laufenden Dialog erzeugt wird. Zudem ein Grund, warum Sterankos „Nick Fury“ im Vergleich heutzutage nur noch einen grafischen Reiz ausübt. Philipp Spreckels erklärt das dankenswerter Weise hier etwas ausführlicher.  

Verdammt sind sie alle

Nun ist „Bruno Brazil“, wie „Nick Fury“, nicht gerade auf dem Niveau eines ausgeklügelten und differenzierten zeitgenössischen Spionagecomics wie Ales Kots „Zero“, aber Gregs Skripte zeigen, im Gegensatz zu den Nick Fury-Plots, einen gewieften Routinier, dem es in seinen besten Momenten gelingt, seinen Figuren etwas Mehrdimensionalität zu verleihen. So spielt der biografische Hintergrund des vorbestraften Kommando Kaiman-Mitglieds Gaucho Morales im Zweiteiler „Die Nacht der Schakale/Höllentanz in Sacramento“ eine zentrale Rolle für die Entwicklung des Plots. Auch Whip Rafale erscheint als autonom handelnde weibliche Figur, ebenso die mehrfach in Erscheinung tretende Team-Nemesis Rebelle. Das ist für ein Unterhaltungs-Produkt dieser Ära nicht schlecht, auch wenn man gelegentlich über unschöne Formulierungen wie „Schlitzaugen“ stolpert, so in der Geschichte „Fragen Sie nach Papa Konfuzius“, einer Erzählung von Jacques Acar, die auf der Comicserie basiert.

Kugelbunter Farbeinbruch: Eine psychedelische Szene aus "Bruno Brazil".
Kugelbunter Farbeinbruch: Eine psychedelische Szene aus "Bruno Brazil".

© Egmont

Die bis dato selten gesehene radikale Dezimierung von Handlungspersonal rief bei den geschockten „Tintin“-Lesern nicht unbedingt Begeisterung hervor. Autor Greg erhielt haufenweise Protestbriefe, weigerte sich aber, Zugeständnisse an die Leserschaft zu machen. Vorsichtshalber unterschlug das im Hinblick auf die Zielgruppe mit „Tintin“ vergleichbare Comic-Magazin „Zack“, welches „Bruno Brazil“ in den 1970er Jahren in deutscher Sprache veröffentlichte, den Tod einer der Figuren durch Textänderung in der Übersetzung. Die später erfolgende Auslöschung einiger Hauptfiguren sowie die teilweise Invalidität der Überlebenden, machte eine Fortsetzung von „Bruno Brazil“ so gut wie unmöglich. Es gab noch ein paar halbgare Versuche, darunter eine Sammlung der frühen Kurzcomics, eingebettet in eine Rahmenhandlung, die über die weitere Einsatzfähigkeit des Teamleiters spekulierte, doch die Luft war raus. Was auch gut ist, denn gerade das desillusionierende Ende macht Bruno Brazil zu einem noch heute beeindruckenden Leseerlebnis.

Die seit einigen Jahren komplett vorliegende dreibändige deutsche Gesamtausgabe weist bis auf einen Kurzbeitrag zum 40. „Tintin“-Jubiläum sämtliches Material in hoher Qualität auf, begleitet von Jacques Pessis' ausführlichen Dossiers über die Geschichte der Serie. Wer sich also für das Genre Spionage oder beeindruckendes Artwork begeistern kann, ist mit Bruno Brazil nicht schlecht bedient.

Am Montag ist William Vance, der seit 2010 an der Parkinsonschen Krankheit litt, gestorben.

Greg/William Vance: Bruno Brazil, Egmont Comic Collection, drei Bände, je 200-224 Seiten, je € 29, 99

Hinweis: Dieser Text wurde 2014 erstmals auf den Tagesspiegel-Comicseiten veröffentlicht und jetzt aus aktuellem Anlass leicht überarbeitet.

Komplett: Das Cover des ersten von drei Sammelbänden.
Komplett: Das Cover des ersten von drei Sammelbänden.

© Egmont

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