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Parallelen zur Gegernwart: Eine Seite aus dem ersten Band von „The Fall“.

© Illustration: Jared Muralt

Tödliche Grippe-Pandemie im Comic: Der Horror der zweiten Welle

Jared Muralt schildert in der Comicserie „The Fall“ die Folgen einer Grippe-Pandemie bemerkenswert realitätsnah. Dafür wurde der Schweizer jetzt ausgezeichnet.

Als die ersten Menschen erkranken, ähnelt es einer regulären Grippe. Doch als im Herbst die zweite Welle einsetzt, wird es ernst: Die Wirtschaft bricht ein, Schulen und Hochschulen werden geschlossen, die Menschen müssen Abstand halten und Masken tragen. Und mit dem Fieber kommt der Tod.

Die ersten Seiten der Comicserie „The Fall“ des Schweizer Autors und Zeichners Jared Muralt klingen wie eine Zusammenfassung der Nachrichten der vergangenen Monate. Doch Muralt ist kein Chronist der Gegenwart des Jahres 2020, er zeichnet bereits seit Jahren an der fortlaufenden Erzählung, die 2015 mit dem Comicstipendium der Deutschschweizer Städte ausgezeichnet wurde, in dessen Jury auch der Autor dieses Artikels saß. 2018 erschien ein erster Sammelband.

Weitaus tödlicher als das Coronavirus

„Als ich anfing, The Fall zu schreiben, wütete in West-Afrika bereits seit 2014 eine Ebola-Epidemie“, erzählt Jared Muralt im Gespräch mit dem Tagesspiegel. „Diese Tragödie bot den idealen Nährboden für meine Recherchen.“ Zudem habe er sich eingehend mit der Spanischen Grippe von 1918 bis 1920 befasst. Die forderte damals bis zu 50 Millionen Menschenleben – und auch in „The Fall“ entwickeln sich die Dinge schnell viel blutiger und dramatischer als in der Corona-Realität der Gegenwart.

Jeder ist sich selbst am nächsten: Eine Szene aus dem zweiten Band von „The Fall“.
Jeder ist sich selbst am nächsten: Eine Szene aus dem zweiten Band von „The Fall“.

© Illustration: Jared Muralt:

Dennoch fühlte sich der 38-Jährige, der in Bern lebt, zu Beginn der Pandemie des Jahres 2020 ein wenig in jene Welt versetzt, die er für seine Comicserie geschaffen hat. „Am Anfang war das schon ziemlich seltsam, als ich plötzlich wie meine Figuren im Comic vor leeren Lebensmittelregalen stand“, sagt Muralt über den Beginn der Coronakrise. „Zum Glück hat sich die Lage wieder etwas beruhigt, ganz im Gegensatz zur Storyline in meiner Serie.“

Denn in „The Fall“, das größtenteils in der Schweiz spielt, gelingt es den Menschen nicht, das Virus unter Kontrolle zu bekommen – und das ist weitaus tödlicher als das Coronavirus. In klaren, realistisch wirkenden Bildern erzählt Muralt in der Reihe davon, wie eine durch das Virus dezimierte Familie – die Mutter war Pflegerin auf einer Intensivstation und fiel zu Beginn der Pandemie dem Virus zum Opfer – den Zerfall der gesellschaftlichen Ordnung nach dem Ausbruch der Krankheit erlebt.

Die Zahl der Grippetoten steigt rapide, Impfungen zeigen nicht die erhoffte Wirkung. „Evolutionstechnisch sind wir dem Virus unterlegen“, wird ein Experte in einer Radiosendung zitiert. Es kommt zu Plünderungen und Straßenkämpfen, die staatliche Ordnung zerfällt. Die Hauptfiguren flüchten überstürzt in die Berge – doch auch dort ist unter den Menschen längst ein Überlebenskampf entbrannt, der an Horrorerzählungen wie die international erfolgreiche Zombie-Reihe „The Walking Dead“ erinnert.

„Solange alle genügend zu essen haben, zeigen wir uns gerne von der solidarischen Seite“

All das erzählt Jared Muralt mit filigranem Strich und einer freundlich wirkenden, pastellfarbenen Kolorierung – ein bemerkenswerter Kontrast zur harten, im Verlauf der Geschichte zunehmend blutigen Handlung. Bislang sind zwei Sammelbände im Tintenkilby-Verlag erschienen (je 64 S., je 15,80 €).

Familie auf der Flucht: Das Cover des ersten Sammelbandes.
Familie auf der Flucht: Das Cover des ersten Sammelbandes.

© Illustration: Jared Muralt

„Eigentlich wollte ich bloß eine postapokalyptische Comicserie zeichnen“, erzählt Jared Muralt. Für den Übergang von der Welt, in der wir leben, in die neue, postapokalyptische Welt schien ihm ein von Wissenschaftlern prognostiziertes, realistisches Szenario besonders geeignet – nämlich das einer Pandemie. „Es gab schon vor Corona unzählige Dokumentationen über das Thema, ich musste nicht weit suchen“, sagt er. Als dann ab dem Frühling 2020 manches sich in der Realität so entwickelte wie in seinem Comic, habe sich das gerade am Anfang ziemlich „surreal“ angefühlt. „Doch mit der Zeit gewöhnt man sich daran.“

Auch wenn in seinem Comic die zweite Grippewelle verheerende Folgen hat, sieht Jared Muralt im realen Leben der zweiten Corona-Welle eher gelassen entgegen. „Man weiß, was im schlimmsten Fall auf uns zukommt“, sagt er. „Einen weiteren Lockdown halte ich zwar eher für unwahrscheinlich – trotzdem könnte es ziemlich chaotisch werden, wenn neben Corona auch noch die normale Grippe kursiert.“

Dass es in unserer Realität absehbar zu einem Überlebenskampf wie im Comic kommen könnte, in dem sich jeder selbst am nächsten ist, hält der Zeichner für unwahrscheinlich. „Solange alle genügend zu essen haben, zeigen wir uns gerne von der solidarischen Seite“, sagt er. „Nagt man selbst am Hungertuch, ändert sich die Lage dramatisch.“ Er glaube aber nicht, dass die Corona-Pandemie absehbar zu einem solchen Szenario führen wird. „Falls ein Zerfall von gesellschaftlichen Strukturen stattfindet, dann eher langsam und aufgrund der schwächelnden Wirtschaft.“

Ausgezeichnet in der Kategorie „Nachrichtliche Comics“

Für seinen aus heutiger Sicht stellenweise fast prophetischen Comic wurde Jared Muralt im vergangenen Monat in Belgien mit dem Atomium-Comicpreis ausgezeichnet, der jährlich in Brüssel vergeben wird – und zwar in der Kategorie „Nachrichtliche Comics“.

Das Cover des zweiten Sammelbandes.
Das Cover des zweiten Sammelbandes.

© Illustration: Jared Muralt

Der Zeichner habe in seiner Geschichte die „traumatischen Auswirkungen vorweggenommen, die ein hochansteckendes Virus auf das Gleichgewicht der menschlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts“ haben könne, heißt es in der Begründung der Zeitung „Le Soir“, deren Redaktion für die Vergabe dieses Preises verantwortlich ist. „The Fall“ habe mit „visionärer Kraft“ und in sehr realistischer Form einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Pandemie geleistet, die die Welt des Jahres 2020 erschüttert habe.

Die Parallelen von „The Fall“ zur Erfolgsserie „The Walking Dead“ bestehen übrigens nicht nur darin, dass beide Serien vom Überlebenskampf einer Gruppe Menschen nach der Apokalypse berichten. „The Walking Dead“ begann ja ebenfalls als Comicserie, geschaffen 2003 von US-Autor Robert Kirkman und Zeichner Tony Moore, bevor es als Fernseh-Verfilmung weltweit Erfolg hatte. Die Comicserie erschien im US-Verlag Image Comics, vor drei Monaten wurde das letzte Heft veröffentlicht. Und genau dort soll ab Februar 2021 auch Jared Muralts „The Fall“ auf Englisch veröffentlicht werden.

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