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Sehnsuchtsort. Barcelona hat für Lin Xiaolu, die Hauptfigur in „Der freie Vogel fliegt“, eine besondere Bedeutung.

© chinabooks

Teenager-Alltag in China: Auf der Suche nach dem Glück

Die Comicreihe „Der freie Vogel fliegt“ gibt bemerkenswerte Einblicke in den chinesischen Alltag und beeindruckt durch handwerklich perfekte Zeichnungen.

Immer wieder Barcelona. Die Stadt wird für Lin Xiaolu zum Traumziel, nachdem ein von ihr heimlich verehrter Mitschüler ein Bild der Basilika Sagrada Família an einer Schulwand aufgehängt hat. Von da an ist die katalonische Metropole für die junge Frau, die in der südwestchinesischen 16-Millionen-Einwohner-Stadt Chengdu lebt, einer der Orte, an die sie in ihrer Fantasie reist, wenn es das echte Leben mal wieder nicht gut mit ihr meint.

Unter Freundinnen: Eine Szene aus „Der freie Vogel fliegt“.
Unter Freundinnen: Eine Szene aus „Der freie Vogel fliegt“.

© chinabooks

Und das ist zumindest in den ersten Kapiteln der jetzt komplett auf Deutsch vorliegenden sechsbändigen Erzählung „Der freie Vogel fliegt“ (aus dem Chinesischen von Martina Hasse und Marc Hermann, chinabooks, sechs Bände à rund 300 S. (enthält jeweils die deutsche und chinesische Version, je 24,90 €) ziemlich oft der Fall. Denn die zu Tagträumen und romantischen Schwärmereien neigende Lin Xiaolu ist eine Einzelgängerin, die zu Beginn ihrer Schulzeit gemobbt wird, die Scheidung ihrer Eltern verkraften muss und erst nach und nach ihren eigenen Weg zum Glück findet.

Von japanischen Comics und Trickfilmen inspiriert

In hellen, warm kolorierten Digitalbildern, die eine malerische Ästhetik haben und oft von innen heraus zu leuchten scheinen, hat die chinesische Zeichnerin Ageng den Bildungsroman der Bestseller-Autorin und Zeichnerin Jidi umgesetzt.

Die Bände enthalten jeweils die deutsche und die chinesische Fassung, hier das Titelbild von Band 1.
Die Bände enthalten jeweils die deutsche und die chinesische Fassung, hier das Titelbild von Band 1.

© chinabooks

Ageng ist eine begnadete Illustratorin, besonders beeindrucken ihre filigrane Figurenzeichnung und die fein ausgearbeiteten Hintergründe, die ihren Bildern Tiefe geben. Auch der wiederholte Wechsel von fast hyperrealistische gezeichneten Alltagsszenen zu surrealistisch anmutenden Traum- und Fantasiesequenzen ist visuell beeindruckend.

Die Bildsprache ist stark von japanischen Comics und Trickfilmen inspiriert, die in China weit verbreitet und auch für die Hauptfigur Lin Xiaolu ein wichtiger Bezugspunkt sind. So nimmt das Äußere der meist realistisch gezeichneten Figuren in emotional zugespitzten Situationen eine kindlich anmutenden Cartoon-Stil an, im Manga als Chibi-Stil bekannt.

Comics aus China sind allerdings hierzulande, im Gegensatz zu denen aus Japan, erst noch zu entdecken. Daher ist es dem Schweizer Verlag chinabooks hoch anzurechnen, dass er seit einigen Jahren konsequent sein weitgehend zweisprachiges Comic-Programm ausbaut. Auch in Sachen Bilderbücher gibt es hier inzwischen einige herausragende Veröffentlichungen.

Träume, Enttäuschungen, Liebesgeschichten

Der teils melodramatische Erzählton der 1983 geborenen Autorin, die eigene Erfahrungen verarbeitet, passt zu den Gefühlsschwankungen ihrer Hauptfigur und einiger anderer Akteure, die sukzessive ihr Leben bereichern.

Das Titelbild des sechsten und letzten Bandes.
Das Titelbild des sechsten und letzten Bandes.

© chinabooks

An vielen Stellen hat man als Leser das Gefühl, versehentlich das Tagebuch eines Teenagers in die Hand bekommen zu haben. Scheinbar ungefiltert wird da ebenso von großen Träumen und Enttäuschungen berichtet wie vom oft banalen Schulalltag oder episch ausgebreiteten Details von Freundschaften und Rivalitäten mit Mitschülerinnen.

Besonders stark interessiert Lin Xiaolu sich für die Beziehungen und Liebesgeschichten der Menschen um sie herum, die sie mangels eigener Erfahrungen in diesem Bereich genau analysiert und daraus Rückschlüsse für sich zieht. Das dürfte die primäre Zielgruppe der Erzählung ansprechen: Der Verlag empfiehlt die Lektüre ab 14 Jahren. Für erwachsene Leser ist manches davon in seiner Ausführlichkeit allerdings ziemlich ermüdend.

Omnipräsenter Anpassungs- und Leistungsdruck

Dank einiger unerwarteter Wendungen im Umfeld der Hauptfigur – von einem Suizid über einen Schwangerschaftsabbruch bis hin zu teils dramatischen Beziehungsgeschichten ihrer Freundinnen – gewinnt der Plot allerdings auch für Nicht-Teenager nach und nach an Relevanz und lässt einen zunehmend neugierig werden, wie es weitergeht.

[Monster, Mythen, Menschenrechte - hier gibt es einen bebilderten Reisebericht zur Comicszene Hongkongs.]

Überraschend dürfte dabei für viele westliche Leser ohne große Kenntnisse des chinesischen Alltags der hohe Grad an Nonkonformität sein, der die Hauptfigur und ihre nach Individualität strebenden Freundinnen und Freunde auszeichnet. Vieles davon widerspricht dem verbreiteten Bild einer rigiden Einheitsgesellschaft in der Volksrepublik oder erweitert es zumindest.

Der enorme Anpassungs- und Leistungsdruck, den Gesellschaft und Staatsführung auf den Nachwuchs ausüben, wird zwar immer wieder angesprochen. Aber daneben gibt es doch bemerkenswerte Freiräume und es bestimmen Themen den Alltag der jungen Menschen, die denen ihrer Altersgenossen im Westen ziemlich ähnlich sind.

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