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Lesbisches Intermezzo: Eine Szene von Tagesspiegel-Zeichner Mawil.

© Zwerchfell

Sex im Comic: Strich für Strich zum Höhepunkt

Hetero oder homo, devot oder dominant: Die erotische Anthologie „Bettgeschichten“ gibt einen lustvoll-voyeuristischen Überblick über das Können der deutschsprachigen Independent-Szene. Dabei zeigen die 18 Beteiligten mehr, als manchem Leser lieb sein mag.

Pornografische Inhalte im Comic sind vermutlich so alt wie das Medium selbst. Die aus den USA stammenden Tijuana Bibles oder Eight-Pagers, benannt nach ihrem acht Seiten umfassenden Format, versahen Figuren wie Flash Gordon, Popeye oder Dagwood Bumstead (Dankwart Bumskopp aus Chic Youngs „Blondie“) mit einem heftig ausagierten Triebleben. Art Spiegelman hält die pornografischen Kleinode, die zwischen den 1920er bis 1960er Jahren erschienen, gar für die Wiege der amerikanischen Comic-Hefte: „Tatsache ist, obwohl sich bisher noch keiner die Mühe gemacht hat, das auch zu sagen, dass die Tijuana Bibles die allerersten Comic-Hefte in Amerika waren. Sie waren mehr als die bloßen Reprints von alten Zeitungsstrips und sind fünf bis zehn Jahre älter als das, was wir für gewöhnlich als Beginn des Typus des Comicbook ansehen.“

Im deutschen Comic fanden sexuelle Inhalte im größeren Maß Eingang durch Underground Comix der 1960/70er Jahre, vornehmlich durch Übersetzungen von zuerst amerikanischen und später französischen Werken durch Verlage wie März, Melzer oder den Volksverlag. Letzterer nutzte eifrig den Terminus „Comics für Erwachsene“ und veröffentlichte 1981 unter anderem Mali & Werners „Neue Porno Comix“ sowie W. V. Hertz´ „4 oder keine Reise gen Italien“. Dies waren Arbeiten, die explizite Darstellungen sexueller Natur beinhalteten - von sonst mit anderen Themen befassten deutschen Künstlern. Beide Ausgaben wurden von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert.

Versuchen des Kauka-Verlages zu Beginn der 1970er Jahre mit einer Mischung aus lizensiertem Material und zum Teil in Eigenregie produzierten Stoffen im Magazin „Pip“ zu reüssieren, war kein anhaltender Erfolg beschieden. Hier wurde allerdings auch keine harte Pornografie dargeboten, sondern schlüpfriger Softsex.

Beschränkungen von Seiten der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, heute BPJ Medien, unterlag während der 1980/90er Jahre das Magazin „Schwermetall“, welches Material aus Frankreich und den USA („Métal Hurlant“ und „Heavy Metal“) für den deutschen Markt aufbereitete, aber auch deutschen Zeichnern eine Veröffentlichungsmöglichkeit bot.

Unter Indizierung oder gar Dauerindizierung litten im selben Zeitraum besonders die am deutschen Underground-Magazin ‚Menschenblut‘ beteiligten Autoren und Zeichner, welches eigentlich „nur für Erwaxene“ bestimmt war. Doch die dortige fortwährende realistische Darstellung von Sex und Gewalt fand nicht viele Freunde bei staatlichen Jugendschutzbeauftragten.

Begegnung in der Boutique: Eine Szene von Maike Plenzke.
Begegnung in der Boutique: Eine Szene von Maike Plenzke.

© Zwerchfell

Dem Dunstkreis von „Menschenblut“ entstammende Künstler wie Matthias Schultheiss führten derartige Traditionen später an Hand der BPJS-Indizierung eigener Titel fort. Die des Schultheiss-Titels „Kalter Krieg“ von 1985 war allerdings sozialethischer Natur und wurde mit der Einschätzung begründet, der Autor würde durch seine Schilderung und Darstellung bestimmter Ereignisse „der Jugend keine Hoffnung machen“. Mit dem 1991 bei Hummel Comics veröffentlichten „Talk Dirty“, welches pornografische Elemente beinhaltete, hatte Schultheiss dagegen keine Schwierigkeiten mehr – die Zeiten und Wertvorstellungen waren im Wandel. Und 2006 störte sich niemand mehr daran, dass „Spiegel Online“ in seinem Portrait des ehemaligen „Menschenblut“-Zeichners Toni Greis süffisant auf dessen pornografische „Alraune“-Reihe verwies. Heutzutage kann Greis´ ehemaliger Mitstreiter Geier nach einem Hardcore-Porno wie „Arsinoe“ seinen zugegebenermaßen etwas zahmeren Soft-Sex-Comic „Horst“ bei Panini veröffentlichen. Ebendort im Programm befindlich ist der Versuch eines Pornos namens „Honigfeigen“ von Autorin Sanni Kentopf - bei dem allerdings Rochus ‚Robi‘ Hahn, früher auch bei „Menschenblut“ tätig, als Co-Autor die Finger mit im Spiel hatte und der, wie so oft, durch einem männlichen Zeichner, Alberto Saichann, grafisch umgesetzt wurde.

Bei „Bettgeschichten“ erobern sich Frauen die Erotik zurück

Dominanz in Pastell: Eine Szene aus Steffi Schützes Beitrag.
Dominanz in Pastell: Eine Szene aus Steffi Schützes Beitrag.

© Zwerchfell

Die Deutungshoheit im einheimischen pornografischen Comic liegt leider überwiegend bei Männern. Aus weiblicher Sicht betrachtet eine recht magere, wie oftmals frustrierende und unansehnliche Ausbeute. Was sich jetzt aber endlich ändert: In der kürzlich von Naomi Fearn („Zuckerfisch“) und Reinhard Kleist („Cash - I see a darkness“) herausgegebenen erotischen Anthologie „Bettgeschichten“ wechseln Männlein und Weiblein einander beim amourösen Stelldichein ab. Mitunter geht es zu wie in Arthur Schnitzlers „Reigen“, allerdings auf kreativer Ebene und vollzogen von Künstlern des aktuellen deutschsprachigen Independent-Comic.

Über dessen Vielfalt entsteht so unter dem wiederbelebten Begriff ‚Comics für Erwachsene‘ ein lustvoll-voyeuristischer Überblick. Die gezeigten erotischen Phantasien unterliegen dabei nur selten Konventionen oder der Abgrenzung zur Pornografie und können sich einer eventuell gestauten Triebabfuhr als durchaus hilfreich erweisen. Das erinnert positiv an die seit 2011 in den USA erscheinende Reihe „Thickness“, die sich ebenfalls mit dem weiten Feld geschlechtlicher Interaktion beschäftigt und viele aufstrebende Künstler aus der dortigen Indie-Szene wie Lisa Hanawalt, Brandon Graham oder Johnny Negron versammelt.

Nicht nur das Geschlecht der Pornografen ist im Wandel begriffen. Dass der Umgang von Pornografie in Zeiten von „You Porn“ oder „XVideos“, auf denen gratis jedwede nur denkbare sexuelle Praxis abrufbar und zur Normalität geworden ist, zeigt sich in den Beiträgen der teilnehmenden Comickünstler.

Sex auf dem Männerpissoir: Reinhard Kleist hat eine ältere Geschichte beigesteuert.
Sex auf dem Männerpissoir: Reinhard Kleist hat eine ältere Geschichte beigesteuert.

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Ob nun hetero, lesbisch oder schwul, devot oder dominant, allein, zu zwein oder in der Gruppe – das libidinöse Füllhorn der „Bettgeschichten“ bietet etwas für (fast) jeden Geschmack. Selbst Furry- und Tentacle Porn sind vertreten, die Tentakel bekommen von Calle Claus allerdings eine fungizide Neuinterpretation verpasst. Das Finale von Heiko Nerenz´ Beitrag mündet in bukkakenaher Ästhetik und der gleichfalls durch Pornofilme etablierte Cum- oder Money Shot findet sich ebenso bei Frank Schmolke wieder, wie Natursekt- oder Golden Rain-Praktiken – sein dunkel bebildertes Kammerspiel kommt themengerecht in goldfarbenem Lettering daher und bietet mit der Benennung seines Protagonisten Yellow Kid einen doppeldeutigen Insider-Witz.

Höhepunkte hat es dem Thema angemessen also viele, doch wie sieht es mit dem künstlerischen Mehrwert aus? Véro schickt den Furry Porn mit sadomasochistischer Note versehen in die Disco und lässt in ihrer Adaption einer Geschichte von Dirk Werner melancholische Untertöne anklingen. Bei ihrem letztjährigen Beitrag zur Helmut Nickel/Winnetou-Hommage „Hugh!“ hatte sie bereits gezeigt, wie mittels Perspektivwechseln eine Aussage zur Verhältnismäßigkeit zwischen Autor, Trieb und Werk ohne allzu viele Worte vermittelt werden kann. Véros kantiger, leicht expressiver Stil und abgestufte Rottöne liefern einen angemessenen Ausgangspunkt um abgründige Darstellungen zwischen den Bildern im Kopf des Lesers entstehen zu lassen. Zusätzlich beschert sie uns ein Cameo einer der Figuren aus „Das Leben ist kein Ponyhof“ der in dieser Anthologie leider nicht vertretenen Zwerchfell-Künstlerin Sarah Burrini.

Der Porno ist im deutschen Independent-Comic angekommen

Hautnah: Das "Bettgeschichten"-Coverbild von Frank Schmolke.
Hautnah: Das "Bettgeschichten"-Coverbild von Frank Schmolke.

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Iris Luckhaus und Naomi Fearn frönen beide der Kunst des exzessiven Hintergrunddekors in Kleiderschränken oder Appartements. Während sich Luckhaus zurückhaltendem Voyeurismus und perfektionierter Formausgestaltung widmet, lässt Fearn es dagegen richtig krachen. Die Jugendstil-Ornamentik ihrer an George McManus geschulten „Zuckerfisch“-Strips hat sie etwas gedrosselt, dafür inszeniert sie in kräftigen Farben einen Dreier inklusive Sandwich, gelegentlich gebrochen durch animalische Niedlichkeit auf floralem Grund.

Die bereits an Beiträgen für Marvel-Comics erprobten Berliner Steffi Schütze und Christian Nauck toben sich dagegen lieber in der Natur oder im Wilden Westen aus. Bei Schütze wird daraus ein in dicken kurvigen Linien getuschtes Plädoyer zur Bewahrung der Schöpfung mit wechselseitiger pastellig-zärtlicher Dominanz zwischen den Geschlechtern. Naucks maskuline Wild-West-Outlaws verschmähen die Pferde und reiten sich lieber gleich gegenseitig zu, lehnen aber auch die Teilnahme einer Dame nicht ab. Schüsse fallen nicht, abgesehen vom finalen Gang-Bang. Der Zeichenstil erinnert an amerikanische Superhelden-Comicbooks der 1970er Jahre, und der Wechsel zwischen gedeckten und schreienden Farben lenkt den Blick des Lesers auf das Wesentliche.

Auch Christian Turks Beitrag hat einen Bronze Age-Look, durch das von ihm gewählte Sujet der Mythologie bekommt sein Beitrag nicht nur einen leichten Studio-Giolitti-Touch, sondern auch einen paternalistischen Subtext.

Mawil, der von überarbeiteten Feuilletonisten oft irrtümlicherweise mit neurotischen Stadtbewohnern in Verbindung gebracht wird, weiß, wie es anders geht. Sein lesbisches Intermezzo punktet mit sinnesfreudigem Egoismus und durch Kenntnis von Eurodance-Eintagsfliegen der 1990er Jahre. Die niedlichen Figuren haben nicht nur da Rundungen, wo es für derartige Geschichten nötig ist, sondern praktischerweise gleich überall.

Kantiger wird´s bei Reinhard Kleist, der sich besser mit norwegischen Krachkapellen und Country Music auskennt - Man(n) bleibt unter sich. Folglich wird umfeldgemäß dreckiger Sex auf dem Männerpissoir zelebriert, wobei besonders die Hintergründe des Handlungsortes liebevolle Darstellung erfahren und so mittels derartiger ästhetischer Aufwertung kein Griff ins Klo entsteht.

Nicolas Mahler ist eher still, der einzige Österreicher unter lauter Deutschen und daher vermutlich etwas schüchtern. Er nutzt dieses vermeintliche Handicap und setzt, wie immer, auf abstrakten Minimalismus. Dabei zeigt er mehr, als manchem lieb sein mag.

Unter lauter Deutschen stimmt nur insofern, dass Horst Dounchidy-Glokken im Elsass geboren wurde und eigentlich eine Frau ist. Im Stil eines schrägen Funnys erhält Goethes Zauberlehrling ein sexy hexy Make-over in erdfarbener Koloration. Dieses dämonische Up-Date wird durch einen Coitus interruptus gestört, welcher gottlob allerdings nur der Auszubildenden widerfährt, nicht dem Leser.

Maike Plenzke zeigt in einem an Animation-Cels angelehnten Stil den vergnüglichen Einkauf in einer exklusiven Boutique, verliert dabei aber den Umsatz aus den Augen. Doch die Zunge wird hier für andere Dinge als verkaufsfördernde Argumentation benötigt - und bei H&M will ohnehin niemand arbeiten, geschweige denn Sex in der Umkleidekabine haben.

Tim Dinter und Verena Klein verlegen sich auf´s Kulinarische und beweisen ökotrophologische Kenntnisse bezüglich der Nährwerte männlichen Spermas. Damit bleibt man nicht nur zeichnerisch auf einer klaren Linie. Laska Comix, das zweite gemischte Doppel, verzaubern die Leser lieber durch eine fröhliche Ode an die Masturbation. Ihre Beschwörung der Macht des Bildes bringt die Existenzberechtigung dieser Anthologie auf den Punkt.

Christopher Tauber tummelt sich gleichfalls im Bereich der Funnies, allerdings derer mit derberem Humor. Liebhaber von Kaviar werden so ebenfalls bedient, jedoch nur temporär. Von hinten schließlich kommt Ingo Römling, und zwar auf dem Backcover. Da hätte man gerne noch mehr gesehen.

One Night Stand: Diese sechs Künstler machen bei der Lesung mit.
One Night Stand: Diese sechs Künstler machen bei der Lesung mit.

© Zwerchfell

Porno ist also angekommen in der Gesellschaft - und im deutschen Independent-Comic. Vollzog Arthur Schnitzler an Hand seines „Reigen“ noch einen Abgesang auf die Moderne, so kann man in „Bettgeschichten“ eher einem Loblied auf die Freiheiten der Postmoderne und auf das anything goes der aus ihr erwachsenen Nonkonformität lauschen. Letztlich ist dieser Comic aber auch ganz klar Pornografie und will als Anregung verstanden werden. Dass dieses in relativ hoher ästhetischer Qualität geschieht, ist lobenswert; dass einige der teilnehmenden Künstler sogar etwas mehr erreichen als simple Erregung - umso besser.

Naomi Fearn und Reinhard Kleist (Hg.): Bettgeschichten, Zwerchfell, 104 Seiten, 20 Euro, nur für volljährige Leser. Zur Verlags-Website geht es hier. Und einen Blog zum Buch mit Leseproben gibt es hier.

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