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Kreuzberg? Das wird in dieser Szene aus „RRWB“ zu Ernst-Toller-Stadt. Für Komplettansicht auf das Kreuz-Symbol klicken.

© Berlin Story

Revolutionäre Phantasien: Wie die '68er Berlin zur Diktatur machten

Die Comicerzählung „RRWB“ spielt durch, was aus den linken Utopien geworden wäre, wenn 1968 die revolutionäre Studentenbewegung gesiegt hätte.

Die Schlacht am Tegeler Weg bringt die Wende. Ein Laster voller Pflastersteine, schlagkräftige Rockertruppen und ein Haufen Gewehre aus einem Schießstand der Polizei – diese Zutaten reichen aus, um am 4. November 1968 der revolutionären Studentenbewegung zum Sieg zu verhelfen. Wenige Wochen später wird die Sozialistische Räterepublik West-Berlin ausgerufen, eine Utopie ist wahr geworden.

So beginnt die Comicerzählung „RRWB“ (Berlin Story, 210 Seiten, 29,95 Euro), mit der der Historiker Jörg Ulbert, der Journalist Thomas Jaedicke und der Zeichner Jörg Maillet zu einer kontrafaktischen Reise in die Geschichte Berlins einladen.

Ulbert und Maillet haben mit „Gleisdreick“ und „Westend“ bereits zwei sehr gelungene längere Comicerzählungen zur – realen – West-Berliner Geschichte der 1980er Jahre vorgelegt.

Diesmal lautete die Prämisse: Was wäre, wenn die linken, radikalen Protestgruppen Ende der 60er tatsächlich den Staat in die Knie gezwungen hätten und eine Gesellschaft nach ihren Idealen aufgebaut hätten? Die Antwort der drei Autoren, die alle um 1968 herum zur Welt kamen, kommt zwar poppig bunt daher, fällt aber düster aus.

Die Insel Scharfenberg wird zum Gulag

In reduzierten, teils skizzenhaft wirkenden Bildern, die für das ernste Thema fast etwas zu leuchtend koloriert sind, führt „RRWB“ vor Augen, wie die hehren Ansprüche von Rudi Dutschke, Otto Schily und ihren Mitstreitern in den Monaten nach der Revolution umgesetzt werden – und wie außer Phrasen davon schon nach kurzer Zeit kaum noch etwas übrig bleibt.

Anstelle einer befreiten, demokratischen und menschlicheren Gesellschaft entstehen neue Strukturen der Abhängigkeit, der Unterdrückung und der demokratisch nicht legitimierten Herrschaft.

Das Titelbild des besprochenen Bandes.
Das Titelbild des besprochenen Bandes.

© Berlin Story

Neben realen Figuren führt eine fiktive Figur durch die Geschichte. Am Beispiel des Studenten Ralf Schindralski, genannt Ralle, der kurz nach der Revolution für die Beschlagnahmung von Wertgegenständen bei reichen West-Berlinern zuständig ist, wird der Niedergang der Utopie durchgespielt.

Nachdem Ralle sich ein paar Mal zu oft aus dem Volkseigentum bedient hat, landet er auf der Strafinsel Scharfenberg, die sich als brutaler Gulag für RRWB-Gegner entpuppt. Arbeitsdienst bis zum Umfallen, Schikanen und marxistische Schulungen bestimmen den Alltag – an diesem Ort zeigt sich das wahre Gesicht des Regimes besonders schonungslos.

Die „Wunderpille der Wehrmacht“ bringt die Wende

Allerdings lernt Ralle hier auch einen eigensinnigen Weltkriegsveteranen kennen, der ihn mit dem Medikament Pervitin vertraut macht – Metamphetamin, das als „Wunderpille der Wehrmacht“ galt. Das führt zu einer Kette von Ereignissen, die Ralle erneut nach ganz oben bringt, an deren Ende eine weitere Revolution steht.

Dass das Buch trotz seines ernsten Themas eine größtenteils unterhaltsame Lektüre bietet, liegt neben dem an dramatischen Wendungen reichen Plot auch an der Mischung aus Lokalkolorit und Sponti-Humor, die zuweilen an Seyfried erinnert.

Insbesondere Berliner Leser dürften sich daran erfreuen, reale Orte, Personen und Begebenheiten zu erkennen, um die herum das Autorentrio seine Fantasie spielen lässt – wie in der oben zu sehenden Szene, in der Kreuzberg zu einem futuristischen Viertel namens Ernst-Toller-Stadt umgebaut wird.

Allerdings kommt man als Nicht-68er kaum hinterher, all die Anspielungen richtig zuzuordnen, zumal die gelegentlich etwas unscharfe zeichnerische Abgrenzung einzelner Figuren und Orte nicht jede Szene sofort verständlich macht.

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