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Freiheitsdrang: Eine Szene aus „Steinfrucht“.

© avant

Queere Liebesgeschichte aus Montréal: Wo die wilden Wesen wohnen

In ihrem Comic „Steinfrucht“ verarbeitet die in Kanada lebende Künstlerin Lee Lai grundlegende Fragen in einer innovativen Bildsprache.

Es könnte so einfach sein: Zwei Menschen finden sich, finden einander, lieben sich und sind glücklich. Bei Bron und Ray in Lee Lais „Steinfrucht“ ist es leider nicht so simpel. Ray hat ein ziemlich angespanntes Verhältnis mit ihrer Schwestern Amanda. Beide haben völlig verschiedene Lebenskonzepte, können die andere nicht verstehen und Amanda missbilligt die queere Liebesbeziehung von Ray mit Bron.

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Bron hingegen kämpft vor allem mit sich selbst und ihrer Identität. Ihre depressiven Schübe drängen sie immer weiter zum Rückzug in sich selbst. Alle drei verbindet Amandas sechsjährige Tochter Nessie, die regelmäßig von Bron und Ray zum Spielen abgeholt wird.

Der Bewegungsdrang und die wilde Fantasie des kleinen Mädchens geben auch Bron und Ray die Möglichkeit, sich fallen zu lassen und für ein paar Stunden alle Sorgen zu vergessen. Als der Druck von Amanda auf Ray größer wird und Brons Depression immer schwerer, steht die Beziehung vor dem Aus. Bron sucht Halt und Hilfe in ihrer Vergangenheit und reist zu ihren Eltern zurück.

Lee Lai zeigt in ihrem Langform-Debüt „Steinfrucht“ (aus dem Englischen von Henrieke Markert, avant, 232 S., 28 €), wie anstrengend, vertrackt und kompliziert das (Zusammen-)Leben sein kann. „Typisch Millennials“, werden manche sagen, „beschäftigen sich nur mit sich selbst und haben sonst keine Probleme“. Erstens stimmt das nicht (Klimakrise, Wohnkrise, internationale Krisen), zweitens verkennt dieser abfällige Vorwurf die fundamentale Bedeutung der Auseinandersetzung mit sich selbst. Wie sollen wir mit der Welt klarkommen, wenn wir nicht mit uns selbst klarkommen?

Wie können wir uns auf andere und ihre Bedürfnisse einlassen? Wer gibt uns Halt? Lai, die aus Australien stammt und in der kanadischen Provinz Québec lebt, zeigt anhand ihrer Figuren, dass es für diese Fragen keine pauschale Antwort geben kann. Sowohl Ray als auch Bron versuchen Klarheit zu finden, indem sie den engeren Kontakt zu ihren jeweiligen Familien suchen. Ihren „Bio-Familien“ wie es Lee Lai selbst sagt.

Monsterartige Wesen mit Klauen und Reißzähnen

Denn um Familie geht es in „Steinfrucht“ genauso wie um Beziehung und Selbstfindung. Während Ray und Amanda es tatsächlich schaffen offen und ehrlich über ihre Ängste und Vorbehalte zu sprechen und sich dadurch wieder näher kommen, gelingt das Bron mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester nicht. Die Eltern blocken ab oder schweigen sich aus, und die Schwester ordnet sich im Zweifel unter anstatt Bron zur Seite zu stehen.

Eine weitere Szene aus „Steinfrucht“.
Eine weitere Szene aus „Steinfrucht“.

© avant

Visuell arbeitet Lai mit einer Dualität aus Struktur und Zeichnungen, die in einem besonderen Spannungsverhältnis stehen. Auf der einen Seite zieht sich die Panelaufteilung mit vier gleichen Rechtecken als fester Rahmen durch das Buch. Gepaart mit der gleichbleibend monochromen Kolorierung in Blau, vermittelt das eine gewisse Stabilität und gibt den Leser*innen optisch Halt.

Auf der anderen Seite spielt Lai in Kongruenz mit dem Inhalt mit den gezeichneten Figuren und Panelgrenzen. Wenn Roy und Bron zusammen mit Nessie in der Natur spielen, zeigt sich ihr Freiheitsgefühl auch in den Darstellungen. Alle drei werden zu monsterartigen Wesen mit wilden Haaren, Klauen und spitzen Reißzähnen. In ihrer Ausgelassenheit bleiben sie dabei dennoch sympathisch.

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Bei der wilden Jagd im Grünen laufen die Figuren buchstäblich über die Panelgrenzen hinaus. Später wirken die Hauptfiguren hingegen durch die Platzierung und ihre Körperhaltung oft eingeengt. Der Strich folgt feinen Linien, ist sparsam und unerschütterlich.

Das Titelbild von „Steinfrucht“.
Das Titelbild von „Steinfrucht“.

© avant

Lai schildert Beziehungen mit viel Zärtlichkeit. Die Gespräche sind so unbeholfen und schmerzhaft wie im richtigen Leben. In einem Moment öffnet sich eine Figur, nur um im nächsten mit Humor als Schutzmechanismus alles von sich zu halten. Lais Fähigkeit, diese Nuancen zu artikulieren – im Gespräch, in der Figur und in der emotionalen Intensität der Kunst – ist so präzise wie faszinierend.

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Für dieses feinfühlige, oft melancholisch schwermütige Debüt wurde Lee Lai bereits mehrfach ausgezeichnet, so gab es den nordamerikanischen Independent-Comic-Award „Ignatz“ sowohl für die Autorin (Beste Herausragende*r Künstler*in) als auch für das Werk (Herausragende Graphic Novel).

Lee Lai ist mit „Steinfrucht“ ein starkes, beeindruckendes und nachdenkliches Debüt gelungen. Auch wenn die Tonalität des Comics über weite Strecken bedrückend ist, so ist er doch gleichsam sehr bewegend. Eine feinsinnig illustrierte, bittersüße Geschichte über das Auf und Ab zwischen Familie und Identität.

Lara Keilbart

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