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Feindliche Welt: Doppelseite aus „Abara“.

© Illustration: Nihei/Egmont Manga

Manga: Die Schönheit des Zerfalls

Anpassung und Auflösung von Menschen in biologischen oder technologischen Systemen sind das große Thema des japanischen Comic-Künstlers Tsutomu Nihei. Jetzt gibt es zwei weitere seiner grafisch exzellenten Dystopien auf Deutsch.

Der 1971 geborene Architekturstudent Tsutomu Nihei beschließt nach einem einjährigen New York-Aufenthalt im Rahmen seiner Tätigkeit für eine Baufirma Comic-Zeichner zu werden. Als Assistent von Tsutomu Takahashi bei dessen Titel „Jiraishin“ beginnt er Anfang der neunziger Jahre erste Erfahrungen als Mangaka zu sammeln. Schon bald veröffentlicht er eigene Werke im Magazin „Afternoon“. Dort erscheint auch ab 1994 seine Serie „Blame!“ (auf Deutsch 2001 bei Ehapa), für die er mit einem Newcomer-Preis des Magazins ausgezeichnet wird.

In dieser Serie (sowie deren Prequel „Noise“ (2001, auf Deutsch 2004 bei Ehapa) erzählt Nihei, ohne allzu viel Hintergrundinformation preiszugeben, von einer düsteren Zukunft innerhalb einer sogenannten Megastruktur, einem künstlich geschaffenen und stetig anwachsenden Lebensraum. Killy, die nichtmenschliche Hauptfigur, ist auf der Suche nach Menschen mit Netzwerkgenen, denn nur diese können eine Verbindung mit der als Steuerungssystem und Wissensspeicher fungierenden Netzwerksphäre aufnehmen. Auf seinem Weg trifft er auf verschiedene hybride Lebensformen, die mit menschlichen Wesen oft nicht mehr viel gemein haben und die sich in den geschwürartig wuchernden Architekturgebilden der Megastruktur gegenseitig bekämpfen. In langen Korridoren und auf endlosen Treppen verlieren sich die Protagonisten oder mutieren in endlosen Metamorphosen zu neuen Lebensformen. Ähnliches gilt für die dialogarme Handlung, die erst durch die Interpretation des Lesers im Kopf Gestalt annimmt.

Auch in „Biomega“ (2004, auf Deutsch 2009 bei Ehapa, Tagesspiegel-Rezensionen hier und hier), seiner nächsten längeren Erzählung, ist das Setting fast identisch. Als Bindeglied zum „Blame!“-Universum dient hier die erneut auftauchende Firma Toha, die den synthetischen Humanoid Zoichi einsetzt. Dieser soll in einer von einem extraterrestrischen Virus befallenen Welt nichtinfizierte Personen ausfindig machen. Die Erzählung wirkt allerdings durch schnelleres Erzähltempo und actionbetontere Sequenzen wie „Blame!“ auf Speed, ist aber ähnlich offen für Interpretationen.

Humor oder Sex sucht man in Niheis Werken vergeblich

Zwischen diesen beiden Arbeiten zeichnete Nihei 2003 als Auftragsarbeit für den amerikanischen Verlag Marvel die Wolverine-Story „Snikt!“ (2003, auf Deutsch 2004 bei Panini), die in Herangehensweise und Umsetzung beiden Werken stark ähnelt, zumal die Hauptfigur ein Mutant ist, dessen Skelett von der unzerstörbaren Metalllegierung Adamantium umhüllt wird. Die Zeichnungen sind hier erstmals koloriert, jedoch nicht von Nihei selbst.

Der arbeitet vorwiegend in Schwarz-Weiß. Großflächige Schraffuren und dunkle Silhouetten vor weiten, offenen Hintergründen lassen ein oft skizzenhaft wirkendes Panorama einer kalten und feindseligen Umgebung entstehen, in der menschliche Regungen kaum Platz haben. So sucht man Humor oder Sex in Niheis Werken vergeblich, erst in seinen späteren Arbeiten wie „Abara“ (2005, auf Deutsch jetzt bei Egmont Manga erschienen) ändert sich dies schrittweise. „Abara“ erzählt von gigantischen Kreaturen, die Menschen vertilgen und die als weiße Gauna bezeichnet werden. Ihnen stellt sich Kudo entgegen, der eine Synthese aus Humanoid und schwarzem Gauna und somit eine neue Variation Niheis zum Thema Metamorphose und Auflösung darstellt. Die Weiterentwicklung von Niheis Können zeigt sich besonders in den im Gegensatz zu früheren Werken detaillierter dargestellten Gesichtern der Figuren und einer weiteren Verdichtung seiner Erzählweise.

Eine sehr große Rolle spielt in allen Werken eine ausufernd dargestellte Architektur, die in ihrer Exzessivität Parallelen zum Werk François Schuitens erkennen lässt, in der sich aber natürlich auch Niheis Studium dieser Kunst widerspiegelt. Die Nähe zu frankobelgischen Künstlern zeigt sich ebenfalls in der Darstellung der ständige Metamorphosen durchlaufenden Kreaturen, die mitunter an die Figuren aus den Alptraumwelten eines Phillipe Druillet denken lassen. In ihren stillen, fast meditativen Momenten innerhalb großzügiger und platzbeanspruchender Seitenarrangements aber erinnert Niheis Werk auch an Arbeiten von Moebius.

Neuerdings gibt es sogar so etwas wie eine nachvollziehbare Handlung

Mit Moebius verbindet Nihei auch die Arbeit an der „Halo“-Graphic-Novel aus dem Jahr 2006 (auf Deutsch 2007 bei Panini), einer Comic-Umsetzung des Videospiels, zu denen beide Künstler Geschichten beisteuerten. Hier entstand erneut eine komplett kolorierte Story Niheis für eine Marvel-Produktion, in der während des Kampfes eines Humanoiden mit Aliens explodierende Farbarrangements vor düsteren Hintergründen zu sehen sind und die gänzlich ohne Worte auskommt.

Im Kampfroboter: Szene aus „Knights Of Sidonia“.
Im Kampfroboter: Szene aus „Knights Of Sidonia“.

© Illustration: Nihei/Egmont

Dagegen geradezu geschwätzig wirkt Niheis aktuellstes Werk „Knights Of Sidonia“ (2009; auf Deutsch jetzt ebenfalls bei Egmont Manga erschienen). Als Remineszenz an „Abara“ tauchen hier wieder die karnivoren Gauna auf, die von jungen Piloten in Mechas, den in Japan äußerst populären bemannten Kampfrobotern, bekämpft werden. Ansonsten wirkt das alles mehr wie eine Light-Version des Nihei'schen Oeuvres - es gibt Nacktszenen, Anflüge von Slapstick und Figuren mit Beziehungen untereinander. Man bekommt den Eindruck, Nihei sei während des Zeichnens seines neuesten Manga frisch verliebt gewesen. Erstmalig existiert auch so etwas wie eine nachvollziehbare Handlung. Der Zeichenstil bedeutet ebenfalls eine Abkehr von Niheis bisherigen Arbeiten: Klare Linien und scharfe Konturen bilden einen deutlichen Gegensatz zum sonstigen skizzenhaften Stil, der mehr dem offenen Raum verhaftet war. Die Metamorphosen der Monstren fallen moderater und weniger expressionistisch aus und die Darstellung futuristischer Architektur inmitten großer Flächen wird gleichfalls nivelliert.

Wohin Tsutomu Nihei dieser neue künstlerische Weg führt, bleibt abzuwarten. An Popularität hat es ihm jedenfalls noch nie gemangelt, wenn auch die bereits seit 2007 angekündigte „Blame!“-Verfilmung weiter auf sich warten lässt.

Überleben durch Assimilation

Niheis nonlineare und assoziative Erzählweise lässt eine werkgetreue und dabei gleichzeitig kommerziell erfolgreiche Verfilmung eher unrealistisch erscheinen. Dabei wäre die filmische Umsetzung seiner inhaltlichen Vermittlungstechnik über Bilder und deren Abstraktion sicher eine Herausforderung – gerade bei einem derart offensichtlich vom Film beeinflussten Künstler. Zu nennen wäre hier natürlich das japanische Monsterfilmgenre (das aus dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki sowie der anschließenden kollektiven Traumatisierung der Japaner hervorging) und vor allem ein Film wie Shinya Tsukamotos schwarz-weißes Cyberpunk-Drama „Tetsuo – The Iron Man“ (Japan, 1989), der in seiner drastischen Darstellung der Symbiose zwischen Fleisch und Metall auch optisch viel mit den Werken Niheis gemein hat und durch seinen Nihilismus sicherlich großen Einfluss auf dessen Werk ausübte.

Niheis Unbehagen an der Postmoderne und seine gleichzeitige Faszination von einer technologiebestimmten Welt zeigt sich beispielsweise in „Blame!“: Die Auslöschung von Menschen, die unfähig zum Netzwerksphärenkontakt sind, ist eine Allegorie auf die moderne soziale Interaktion mittels Netzwerken, mit der vor allem Niheis Generation und die ihr Nachfolgenden konfrontiert sind. Nur noch eine beschleunigte globale Konnektivität scheint den sozialen und existentiellen Vorsprung zu sichern - inmitten einer Umwelt, in der Viren sowohl biologischer wie technologischer Natur Mutationen hervorbringen, deren endgültiges Entwicklungsstadium sowie ihre Auswirkungen auf menschliches Leben gegenwärtig nicht erkennbar sind. Letztlich scheint aus Niheis Sicht aber nur die Assimilation neuer Entwicklungen das Überleben zu sichern, wie die Phalanx von biomechanoiden Figuren in seinen Geschichten belegt – auch um den Preis, dabei einen Teil der menschlichen Identität zu verlieren.

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