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Der Neue: In dieser Szene aus „Lehrjahre“ lernt Guy Delisle seinen Arbeitsplatz kennen - und die Eigenheiten der Kollegen.

© Reprodukt

„Lehrjahre“ von Guy Delisle: Erinnerungen aus Papier

Seine Reisereportage-Comics machten ihn berühmt. Jetzt ist Guy Delisle in die eigene Vergangenheit gereist. Das ist weniger spektakulär, aber ebenso einnehmend.

In der Regel sind Orte die Hauptfiguren der Comics von Guy Delisle („Aufzeichnungen aus Jerusalem“, „Geisel“): Sei es nun Shenzhen, Pjöngjang, Jerusalem oder Birma, stets ist der kanadische Comiczeichner vor allem ein aufmerksamer Gast, der in seinen Reisereportagen mit charmant neugieriger Distanz den Blick in fremde Länder öffnet.

Auf den Spuren des Vaters: Eine Seite aus „Lehrjahre“.
Auf den Spuren des Vaters: Eine Seite aus „Lehrjahre“.

© Reprodukt

Mit „Lehrjahre“ (aus dem Französischen von Heike Drescher, Handlettering von Olav Korth, Reprodukt, 144 S., 29 €) hat Delisle nun seine persönlichste Arbeit vorgelegt, in der er vom Ferienjob in einer Papierfabrik in Québec berichtet, seinen Anfängen als Comiczeichner, von pubertärer Zurückgezogenheit und vom schwierigen Verhältnis zu seinem Vater.

Als Schüler und Student arbeitete Delisle drei Sommer lang in der Papierfabrik seiner Heimatstadt, in der auch sein Vater als technischer Zeichner tätig ist. Die Arbeit ist nicht kompliziert, aber anstrengend: Delisle schiebt nachts oft Zwölf-Stunden-Schichten und muss vor allem Gänge putzen und Berge von zerfetztem Papier in die Recycling-Anlage der Fabrik schieben, wenn mal wieder eine der Maschinen spinnt und das Material für eine komplette Ausgabe der „New York Times“ ausgespuckt hat.

Dabei begegnen ihm eigenwillige Charaktere, die zum Teil ihr ganzes Leben hier arbeiten: Übergriffige Vorarbeiter, Kollegen, die von einer Bodybuilder-Karriere träumen, weise Gleichaltrige und missmutige Altangestellte.

Es ist ein raues Klima, in dem sich der jugendliche Delisle behaupten muss. Fast nie begegnet er dabei seinem Vater, obwohl er in derselben Fabrik arbeitet; eine symptomatische Fortsetzung ihrer Beziehung im Alltag, die vor allem von Sprachlosigkeit geprägt ist.

„Wenn man weniger erlebt, erinnert man sich mehr“

Wenn Delisle wieder zu Hause ist, vergräbt er sich ganz ins Zeichnen. Systematisch arbeitet er die Comic-Abteilung der örtlichen Bibliothek durch und verfällt dabei vor allem den französischen Klassikern, die er intensiv studiert. Er träumt von einem Job als Animationszeichner, auch wenn ihm der Dozent an der Kunstschule gleich im ersten Semester eröffnet, es gäbe in diesem Bereich keine Jobs.

Der junge Guy Delisle auf dem Titelbild des Buches.
Der junge Guy Delisle auf dem Titelbild des Buches.

© Reprodukt

Bei allem Autobiografischen spielt der Ort natürlich auch bei „Lehrjahre“ eine große Rolle: Die Papierfabrik ist ein unwirklicher Ort, der beherrscht wird vom ohrenbetäubenden Dröhnen der alten Maschinen, deren tonnenschwere Zylinder fast 365 Tage im Jahr durchlaufen. Es ist heiß wie in einer Sauna und immer wieder findet sich Delisle bei seinen langen Nachtschichten mutterseelenallein in den riesigen Hallen wieder.

Der Comic mag vom Setting nicht so spektakulär sein, wie Delisles Reisereportagen, dennoch liest er sich genauso gut: Die freundliche Präzision, mit der Delisle seine Umgebung beobachtet, ist auch in „Lehrjahre“ überaus einnehmend.

Möglicherweise gibt es bald noch mehr persönliche Erinnerungen vom ihm: „Solche aufwändigen, langfristigen Reisen wird es aller Wahrscheinlichkeit nach in meinem Leben nicht mehr geben“, sagte Delisle kürzlich in einem Interview. „Und wenn man weniger erlebt, dann erinnert man sich mehr.“

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