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Selbstliebe per Avatar: Eine Doppelseite aus „Melek + ich“.

© Edition Moderne

Kunst-Comic „Melek + ich“: Rendezvous in der Parallelwelt

Lina Ehrentraut erweist sich mit „Melek + ich“ als eine der interessantesten jungen Stimmen der deutschen Comicszene.

Der Geistesblitz kommt ihr bei einem Cocktail. Die Wissenschaftlerin Nici hat eine Maschine geschaffen, mit der sie in andere Dimensionen reisen kann. Ein Barbesuch bringt sie auf die Idee, einen von ihr entwickelten künstlichen Körper als Vehikel für das gewagte Unterfangen zu nutzen und nur ihr Bewusstsein reisen zu lassen.

Kurz darauf steht die Forscherin in ihrem geliehenen Körper, dem sie den Namen Melek gibt, wieder in der Kneipe – wo sie auf ihr Alter Ego trifft, das in der Parallelwelt als Barkeeperin arbeitet und ein Leben lebt, das wie ein Gegenentwurf zu dem der Wissenschaftlerin wirkt. Die zwei Frauen fühlen sich in ihrer Gegensätzlichkeit voneinander angezogen – Auftakt einer leidenschaftlichen Beziehung.

Eine Szene aus „Melek + ich“.
Eine Szene aus „Melek + ich“.

© Edition Moderne

Die Grundidee von Lina Ehrentrauts Comic-Erzählung „Melek + ich“ (Edition Moderne, 240 Seiten, 25 Euro) klingt ein wenig nach einer klassischen Science- Fiction-Story à la „Looper“. Doch die Leipziger Zeichnerin nutzt die Genre-Prämisse nur als Vehikel für eine im Hier und Jetzt verankerte Erzählung mit viel Witz, in der es auf kluge und frische Weise um Fragen wie Identität, unterschiedliche Lebensentwürfe sowie Liebe und Selbstliebe geht.

Was das Buch der 1993 geborenen Künstlerin zu einer aufregenden Lektüre macht, sind neben dem Plot und den lebensnahen Dialogen vor allem die Zeichnungen, die auf den ersten Blick roh und chaotisch wirken, auf den zweiten Blick aber gut zur Geschichte passen. Ehrentrauts experimentierfreudiger Stil reflektiert die im Buch behandelte Beziehung.

So wie in ihrem Plot zwei konträr angelegte Figuren aufeinandertreffen, die doch nur unterschiedliche Versionen derselben Person sind, so fügen sich hier auch zeichnerisch zwei scheinbar gegensätzliche Elemente zu einem überzeugenden Gesamtergebnis.

Rauschhafte Gefühle, rauschhafte Bilder

Einerseits zeichnet Ehrentraut in einem konkreten Schwarz-Weiß-Strich, der sich auf das Wesentliche konzentriert, stellenweise skizzenhaft wirkt, viele Freiräume lässt und hin und wieder mit wildgezackten Linien Gefühlsausbrüche oder abrupte Bewegungen vermittelt.

Lina Ehrentraut entwirft auch Kleidungsstücke, die sie und auch ihre Comicfiguren tragen.
Lina Ehrentraut entwirft auch Kleidungsstücke, die sie und auch ihre Comicfiguren tragen.

© Damian Rosellen / Promo

Wichtige Plotwendungen und besonders gefühlsintensive Momente illustriert die Zeichnerin hingegen mit einem eruptiven Stilwechsel: Knallbunte Farben und abstrakte Formen füllen dann plötzlich die Seiten bis in den letzten Winkel und sehen aus wie ein zu Papier gebrachter psychedelischer Rausch.

Rauschhaft entwickelt sich auch die Liebesbeziehung der beiden Hauptfiguren – bis die Geschichte eine unerwartete Wendung nimmt. Nici und Melek porträtiert die Zeichnerin als coole, kräftige Frauen mit übergroßen Köpfen und ebensolchen Augen, was ihre Gesichter sehr ausdrucksstark macht.

Charmant ist bei der Figurenentwicklung, wie Wissenschaftlerin Nici anfangs abschätzig auf Barkeeperin Nici als etwas minderbemittelte Version ihrer selbst schaut, sich aber dann von deren Lebensfreude so sehr anstecken lässt, dass ihr Experiment einen unerwarteten Verlauf nimmt.

Liebe, Selbstliebe und ein Körpertausch mit einem Hund

Ehrentrauts Bilder, die sie zudem mit an Emojis erinnernden Symbolen anreichert, haben eine rohe, spontan wirkende Kraft, die bereits ihre 2018 selbst verlegte Erzählung „Doggystyle“ auszeichnete. Auch in jenem Buch ging es bereits um Themen wie Liebe, Selbstliebe und einen Körpertausch – bei dem damals ein Hund eine makabre, aber sehr unterhaltsame Rolle spielte.

Das Titelbild des besprochenen Bandes.
Das Titelbild des besprochenen Bandes.

© Edition Moderne

2019 wurde Ehrentraut mit dem e.o.-plauen-Preis der Stadt Plauen ausgezeichnet, der alle drei Jahre in Erinnerung an den Zeichner Erich Ohser („Vater und Sohn“) vergeben wird. Die Jury lobte damals ihre „fulminante Bilderwelt, die vom Comic über das Einzelbild bis zu selbst produzierten Heften und allerlei Objekten reicht“.

In ihren Werken erzähle sie zumeist von jungen Menschen, oft Frauen, die ihren Platz in der Welt suchten und dabei immer wieder an sich und anderen verzweifelten. Die Künstlerin zeige „Bilder und Selbstbilder voller Kraft und weitab von äußerlich zugeschriebenen Standards der Erscheinung“.

Für „Melek + ich“ hat Lina Ehrentraut ihren prägnanten Stil weiterentwickelt und erweist sich damit als eine der interessantesten jüngeren Stimmen der deutschen Comicszene. Sie repräsentiert eine neue Generation der Leipziger Comic-Schule, die durch Künstler:innen wie Anna Haifisch – Ehrentrauts Vorgängerin als e.-o.-plauen-Preisträgerin – und Max Baitinger inzwischen auch international Aufmerksamkeit erlangt hat.

Wie Haifisch und Baitinger studierte Ehrentraut an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, wo sie im vergangenen Jahr ihr Diplom ablegte – „Melek + ich“ ist ein Teil ihrer Abschlussarbeit.

Und sie ist ebenfalls als Comic-Netzwerkerin aktiv. Als Anna Haifisch kürzlich das Ende des fast zehn Jahre lang von ihr, Baitinger und anderen veranstalteten alternative Comicfestivals „Millionaires Club“ verkündete, sprangen Ehrentraut und ihr Kunst-Kollektiv „Squash“ in die Bresche. Vom 27. bis 30. Mai wollen sie in Leipzig das Festival „Snail Eye – Cosmic Comic Convention“ veranstalten.

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