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Jeff Lemire in seinem Atelier in Toronto.

© Lars von Törne

Jeff Lemire im Interview: „Gute Comics sind gute Comics, das Genre ist egal“

Erfolgsautor Jeff Lemire über die Balance zwischen Independent und Mainstream und seine neue Serie „Black Hammer“.

Er ist einer der erfolgreichsten nordamerikanischen Comicautoren der Gegenwart. Und einer der vielseitigsten. Das Werk von Jeff Lemire (42) umfasst autobiografisch geprägte, realistische Erzählungen wie „Essex County“ (auf Deutsch bei Edition 52) oder „Der Unterwasserschweißer“ (Hinstorff), aber auch Superhelden-Serien, Science- Fiction- und Horrorcomics, die er teilweise zusammen mit anderen Zeichnern umgesetzt hat, wie „Black Hammer“ und „Descender“ (beide auf Deutsch bei Splitter).

„Black Hammer“ (Band 1: Vergessene Helden, Splitter 184 S., 19,80 €) handelt von einer Gruppe ehemaliger Großstadt-Superhelden, die inkognito auf einer Farm im Mittleren Westen Nordamerikas lebt. Schnell wird klar, dass die einst strahlenden Kämpfer für das Gute jede Menge persönlichen Ballast mit sich herumschleppen – und dass hinter der vermeintlichen Kleinstadtidylle dunkle Geheimnisse lauern. Mit dieser Serie verknüpft Lemire Elemente des realistisch grundierten Independent-Comics und des Superhelden-Abenteuers so geschickt wie unterhaltsam.

Im Zeitraffer: Eine Seite aus "Black Hammer".
Im Zeitraffer: Eine Seite aus "Black Hammer".

© Splitter

Die Zeichnungen von Dean Ormston kombinieren die Ästhetik des Golden Age mit der differenzierten Personenzeichnung des Autorencomics. Dave Stewarts fein abgestufte Farbgebung vervollständigt das Bild. Die Superkräfte der Helden dienen wie oft bei Lemire bloß als Metapher für Stärken und Schwächen seiner sehr menschlichen Figuren. Die Schlachten der Vergangenheit sind nur noch Erinnerungen, stattdessen stehen persönliche Konflikte und die Suche nach einer Erklärung für die rätselhafte Lage der Schicksalsgemeinschaft im Vordergrund. Und die Dialoge bestechen bei all ihrer Ernsthaftigkeit immer wieder auch durch Ironie und Humor.

Ende Mai kommt Jeff Lemire zum Internationalen Comic-Salon Erlangen. Dort gibt es eine Ausstellung zu seinem Werk, kuratiert von Tagesspiegel-Redakteur Lars von Törne. Auf mehreren Veranstaltungen wird Lemire über sich und seine Arbeit sprechen.

Am 4. Juni tritt Lemire zusammen mit anderen Vertretern der kanadischen Comicszene bei einer Abendveranstaltung in der Botschaft von Kanada in Berlin auf, die die Ausstellung unterstützt (ab 17.30 Uhr, Eintritt frei, Anmeldung unter diesem Link empfohlen). Auch eine Signierstunde im Comicladen „Grober Unfug“ ist am Nachmittag des 4. Juni geplant.

Lars von Törne hat den Kanadier in Toronto zum Interview getroffen. Hier ein Auszug daraus.

Jeff Lemire am Zeichentisch.
Jeff Lemire am Zeichentisch.

© Lars von Törne

Jeff Lemire, Ihre Vielseitigkeit ist aus europäischer Sicht ziemlich ungewöhnlich. Wie balancieren Sie diese verschiedenen Seiten Ihrer Kreativität?
Das ist in Kanada und den USA auch nicht üblich. Aber für mich kommt alles vom selben Ort. Ich bin in einer kleinen Stadt in Ontario aufgewachsen, auf einer Farm in Essex County, wo meine Eltern heute noch leben. Die einzigen Comics, die ich als Kind kannte, waren Marvel- oder DC-Superhelden-Hefte. Denen eiferte ich nach, als ich anfing, eigene Geschichten zu zeichnen und zu schreiben. In meinen späten Teenagerjahren wurden die Storys dann ausgefeilter. Comics veränderten sich, die ersten Vertigo-Veröffentlichungen kamen auf – und ich war im perfekten Alter, um solche Sachen zu entdecken. Es waren immer noch Genrearbeiten, aber mit viel ausgeklügelteren Geschichten. Als ich mit 19 nach Toronto zog, entdeckte ich dann europäische Comics, alternative Veröffentlichungen, unabhängigere Zeichner.

An dem Punkt hätten viele Menschen Superhelden-Comics hinter sich gelassen – Sie haben stattdessen etliche Serien für Marvel und DC geschrieben.
Ja. Dieses Zeug ist immer noch ein Teil meiner DNA. Und es ist nicht nur Nostalgie, es ist ein großer Teil meiner Liebe für das Medium. Ich fühle mich diesen Figuren sehr verbunden. Ich war nie wirklich ein Snob in Sachen Comics. Ich war nicht jemand, der nur autobiografische Indie- Comics oder Superhelden-Comics mochte. Ich habe einfach gefühlt: Gute Comics sind gute Comics, das Genre ist egal.

Kleine Heldin in Not: Eine Seite aus "Black Hammer".
Kleine Heldin in Not: Eine Seite aus "Black Hammer".

© Splitter

Und jetzt haben Sie mit „Black Hammer“ Ihre eigene Superhelden-Serie gestartet, die sowohl von klassischen Golden-Age-Figuren wie auch von Ihren persönlichen Geschichten inspiriert ist.
Ja, seit ich mein eigenes Superhelden-Universum erschaffen habe, ist es schwieriger geworden, zu Marvel und DC zurückzukehren. Ich kann mit „Black Hammer“ machen, was ich will. Und ich habe die volle Kontrolle über alles.

Also sind Ihre DC- und Marvel-Tage bald vorbei?
Ja, so sieht es aus. Ich habe immer noch ein paar DC- und Marvel-Projekte, die mir Spaß machen. Aber ich starte keine neuen mehr. Ich denke, dass jede neue Geschichte, die ich von jetzt an mache, meine eigene Schöpfung sein wird. Und wenn ich mit anderen Künstlern zusammenarbeite, dann am liebsten mit welchen, die ich kenne, wie mit Dustin Nguyen bei „Descender“ oder Dean Ormston bei „Black Hammer“.

Jeff Lemires Arbeitsplatz in Toronto schmücken die Arbeiten vieler namhafter Kollegen.
Jeff Lemires Arbeitsplatz in Toronto schmücken die Arbeiten vieler namhafter Kollegen.

© Lars von Törne

Ihre Geschichten harmonieren oft sehr gut mit dem Stil der ausgewählten Zeichner. Beeinflusst es Ihre Art zu schreiben, mit wem Sie zusammenarbeiten?
Bei meinen aktuellen Projekten fing ich mit der Geschichte erst an, nachdem ich wusste, wer der Künstler war. Also habe ich bei „Descender“ Ideen speziell für Dustin Nguyen und seine Art zu zeichnen entwickelt. Ich wusste, wie Dustin Kinder zeichnet und wie emotional das Leser anspricht, also habe die Geschichte drumherum gebaut. Es geht darum, den richtigen Künstler für das richtige Projekt zu finden, es ist nicht wirklich austauschbar.

Ihre Genre-Geschichten haben alle ein dekonstruktives Element gemeinsam. Immer suchen Sie nach dem menschlichen Kern in diesen Figuren.
Ja, das macht diese Figuren für mich interessant. Wenn man nur direkte Superhelden-Geschichten macht, in denen die Hauptfiguren auf andere Figuren einprügeln, wäre das für mich als Autor uninteressant. Ich muss die Figuren auseinandernehmen, die emotionale Verbindung für mich finden und dann den Superheldenkram um die Emotionen und die innere Landschaft des Charakters aufbauen. Ich bin eben in den 80er Jahren aufgewachsen, was bekanntlich die große Ära der Dekonstruktion war. Das Zeug, das mich als jüngeren Leser wirklich beeindruckt hat, war Frank Miller mit seinem Daredevil und Batman, Alan Moore mit „Swamp Thing“ und dann „Watchmen“ ... Diese Arbeiten hatten einen großen Einfluss auf mich als Kind.

Und immer noch, wie „Black Hammer“ zeigt.
Ja, das ist ein gutes Beispiel für das Dekonstruieren von Superhelden. Black Hammer verbindet alles, was ich an „Essex County“ mochte, und alles, was ich an Superheldencomics als Kind mochte. Man kann diese Ästhetik kombinieren und ein wirklich interessantes neues Ding schaffen. Viele meiner eigenen Genre-Sachen fühlen sich für mich genauso persönlich an wie alles, was ich getan habe.

Anfangs wolte Jeff Lemire "Black Hammer" selbst zeichnen, hier ein damals entstandenes Promobild der Hauptfiguren.
Anfangs wolte Jeff Lemire "Black Hammer" selbst zeichnen, hier ein damals entstandenes Promobild der Hauptfiguren.

© Lars von Törne

Dies scheint auch für Ihre jüngste Serie „Gideon Falls“ zu gelten, die gerade in Nordamerika angelaufen ist. Eine Horror-Story über Menschen, die mit äußeren Dämonen wie mit großen persönlichen Problemen zu kämpfen haben. Sind Genre-Geschichten für Sie auch ein Vehikel, um eigene Erfahrungen zu verarbeiten?
In allen gut gemachten Genre-Geschichten sind die Genre-Elemente nur Metaphern für das, was in einem vor sich geht. Das ist es, was eine Horror-Story so überzeugend macht: Nimm all die Dunkelheit und Depression, Angst und alles andere, was du erlebt hast, und erschaffe eine Welt, in der du das auf unterhaltsame, mysteriöse und spannende Weise ausdrücken kannst. Es ist sehr kathartisch. Viele meiner Arbeiten können sehr traurig sein, sehr einsam, und die Leute fragen sich manchmal, ob ich so bin. Bin ich aber nicht. Weil ich alles rauslasse. Ich benutze meine Arbeit, um das auszudrücken. Das ist befreiend.

In Ihrer Einführung zu „Gideon Falls“ schreiben Sie, dass Sie eine schwere Zeit durchgemacht haben, als Sie in Ihren 20ern waren. Für viele Ihrer Arbeiten scheint dies immer noch eine kreative Quelle zu sein.
Ja, ich war sehr frustriert mit Anfang 20, sehr wütend. Ich war einsam, litt unter Depressionen, Angstzuständen. Ich lebte in der Großstadt und wollte Comics und andere Dinge mit meinem Leben machen. Aber ich wurde gezwungen, in Jobs zu arbeiten, die mich nicht erfüllten, um meine Miete zu zahlen. Ich habe viel gekämpft, mit Alkohol und anderen Dingen, um damit klarzukommen. Ich bin jetzt als ein 40 Jahre alter Mann viel glücklicher als damals in meinen 20ern. Aber viele dieser Dinge bleiben tief im Inneren und inspirieren mich immer wieder.

Es gibt ein Sprichwort: Glückliche Künstler machen schlechte Kunst.
Ich denke nicht, dass das wahr ist. Meine Arbeit ist besser, seitdem ich ein glücklicherer Mensch bin. Aber ich benutze meine unglücklichen Erfahrungen auf anregende Weise, allerdings verarbeite ich sie intellektuell, nicht emotional. Ich glaube, Du musst glücklich sein, um gute Kunst zu machen. Frustration und Wut erzeugen meiner Erfahrung nach keine Kreativität, sie erzeugen mehr Frustration.

Black Hammer: Das Cover des ersten Bandes der deutschen Ausgabe.
Black Hammer: Das Cover des ersten Bandes der deutschen Ausgabe.

© Splitter

Ich nehme an, Ihre stärker in der Realität verankerten Geschichten wie „Essex County“, „Der Unterwasserschweißer“ und zuletzt „Roughneck“ und „Royal City“ verarbeiten noch mehr Einflüsse aus Ihrem persönlichen Leben?
Besonders bei „Essex County“ glauben viele Leser, dass es autobiografisch ist. Und vieles davon ist es auch. Aber es ist auch sehr fiktionalisiert. Ich würde sagen, es sind 30 Prozent echtes Leben, 70 Prozent Fiktion. Mein Zeichenstil ist so unmittelbar, dass er die Leser emotional anspricht. Und die Art, wie ich Geschichten erzähle, bekräftigt diesen Eindruck. Aber da steckt mehr Fiktion drin, als man denkt. Auch, weil das echte Leben eigentlich ziemlich langweilig ist.

Sie haben mal Film studiert, wurden dann aber Comicautor. Aufgrund Ihres Erfolges sind nun etliche Geschichten von Ihnen in Vorbereitung für eine Verfilmung – es scheint, als schließe sich da ein Kreis.
Ja, derzeit sind acht oder neun Bücher von mir in Entwicklung für eine Verfilmung: „Descender“, „A.D.“, „Essex County“, „Der Unterwasserschweißer“, „Plutona“, „Gideon Falls“, „Black Hammer“, „Trillium“, „Sweet Tooth“. Es ist schon ironisch, wenn man bedenkt, dass ich auf die Filmhochschule gegangen bin und dann beschlossen habe, dass ich keine Filme machen will, sondern Comics. Ich habe einfach mein eigenes Ding gemacht, eine Stimme entwickelt und wurde irgendwie attraktiv für diese Leute. Und das ist cool und aufregend. Aber es ist nie mein Ziel gewesen. Für mich ist es wirklich alles, was ich will, Comics zu machen.

Jeff Lemire in seinem Atelier im Osten Torontos. Für Komplettansicht auf rotes Kreuz klicken.
Jeff Lemire in seinem Atelier im Osten Torontos. Für Komplettansicht auf rotes Kreuz klicken.

© Lars von Törne

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