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Kämpferisch. Eine Seite aus dem Comic „Warrior Nation“, der sich im Sammelband „Dieses Land“ findet.

© Illustration: Andrew Lodwick / Bahoe Books

Indigene Comics aus Kanada: Widerstand mit Stift und Papier

Nachfahren der Ureinwohner Nordamerikas melden sich zunehmend sichtbar zu Wort – auch im Comic. Zur Frankfurter Buchmesse stellen wir die wichtigsten Titel vor.

Kinder werden ihren Familien entrissen und in christliche, von der Regierung finanzierte Internate gezwungen. Ganze Völker müssen ihr angestammtes Land verlassen und Neuankömmlingen oder Industrieprojekten weichen. Seit Generationen überlieferte Traditionen und die eigene Sprache gelten plötzlich als illegale Praktiken, wer sie weiter pflegt, wird als „Wilder“ verhöhnt oder landet im Gefängnis.

Eine weitere Szene aus „Dieses Land – 150 Jahre neu erzählt“.
Eine weitere Szene aus „Dieses Land – 150 Jahre neu erzählt“.

© bahoe

Erfahrungen wie diese haben die Geschichte der Ureinwohner Kanadas geprägt, seitdem die Nachfahren europäischer Siedler sich ihr Land angeeignet und dort vor gut 150 Jahren den Staat Kanada gegründet haben. Lange Zeit war davon in der offiziellen Geschichtsschreibung kaum etwas zu erfahren.

Doch in den vergangenen Jahren hat sich das langsam geändert, nach und nach geraten auch die Schattenseiten dieses Landes in den öffentlichen Blick, das in internationalen Beliebtheits-Umfragen stets auf einem Spitzenplatz landet.

Das wahre Ausmaß der Folgen der Kolonialisierung ist allerdings bislang nur teilweise abzusehen, wie vor wenigen Monaten die Entdeckung eines Massengrabs mit Überresten von 215 indigenen Kindern deutlich machte, die auf dem Gelände eines einstigen Internats in der Provinz British Columbia gefunden wurden.

Immer öfter nutzen Kanadierinnen und Kanadier mit indigenen Vorfahren die Kunstform Comic, um von Diskriminierung, Unterdrückung und Gewalt zu erzählen – sowie von Widerstand, Selbstbehauptung und dem bis heute andauernden Kampf um Gleichberechtigung und Entschädigung.

Zehn solcher Geschichten finden sich in dem Sammelband „Dieses Land – 150 Jahre neu erzählt“, der jetzt zur Frankfurter Buchmesse (20. bis 24. Oktober) im Wiener Verlag Bahoe Books auf Deutsch erscheint (Übersetzung Maria Steiner, 288 S., 26 €) und in dem sich auch die am Anfang dieses Artikels zusammengefassten Erfahrungsberichte finden. Kanada ist in diesem Jahr Ehrengast der Buchmesse.

„Dieses Land“ ist das prominenteste Beispiel einer Reihe von Bilderzählungen indigener Autorinnen und Autoren, die in den vergangenen Jahren in Nordamerika veröffentlicht wurden. „Nur weil manche Sachen nicht aufgeschrieben wurden, sind sie deshalb nicht verloren“, schreibt die Schriftstellerin Alicia Elliott im Vorwort.

„Wir tragen diese Geschichten in unseren Köpfen.“

Sie gehört dem Volk der Tuscarora an, die unter anderem in der Provinz Ontario leben. „Wir tragen diese Geschichten in unseren Köpfen, in unseren Herzen, bis hin zu unseren Knochen. Wir ehren sie, indem wir sie weitergeben und sie auch in anderen weiterleben lassen.“

Das Titelbild von „Dieses Land – 150 Jahre neu erzählt“.
Das Titelbild von „Dieses Land – 150 Jahre neu erzählt“.

© Bahoe Books

Fast 20 Autorinnen und Autoren haben sich für „Dieses Land“ mit Illustratorinnen und Illustratoren zusammengetan, die meisten davon entstammen einer „First Nation“, wie die indianischen Völker in Kanada genannt werden.

Der in Kanada sehr erfolgreiche Jugendbuchautor David A. Robertson, der neben Romanen immer wieder auch Comics geschrieben hat, erzählt hier die Geschichte des indigenen Soldaten Francis Pegahmagabow, der im Ersten Weltkrieg Seite an Seite mit europäischstämmigen Kameraden gekämpft hat und als Kriegsheld gefeiert wurde.

Doch nach dem Krieg erleidet er massive Diskriminierung und wird zum Vorkämpfer für die Bürgerrechte der indigenen Bevölkerung. Die Zeichnerin Natasha Donovan setzt das in klaren, leicht zugänglichen Bildern um.

Die vielfach ausgezeichnete Autorin Katherena Vermette erzählt zusammen mit dem renommierten Zeichner Scott B. Henderson die Geschichte von Annie Bannatyne, einer Angehörigen der Métis, deren Vorfahren indigene Frauen und europäische Fallensteller waren. Bannatyne kämpfte gegen den Rassismus und die Überheblichkeit vieler europäischer Siedler – und griff dabei auch schon mal zur Peitsche, um ihrer Meinung Nachdruck zu verleihen.

Der Schriftsteller und Hochschulprofessor Niigaanwewidam James Sinclair schließlich vermittelt zusammen mit dem Künstler Andrew Lodwick in der Erzählung „Warrior Nation“, aus der wir hier eine Seite zeigen, ein lebendiges Bild von dem bis heute regelmäßig aufflammenden Widerstand indigener Gruppen gegen Neubauprojekte in Regionen, die sie als ihr Land ansehen.

Fakt und Fiktion sind nicht immer klar zu trennen

Vieles, was in diesem Band erzählt wird, ist historisch verbürgt. Anderes wurde, auch mangels schriftlicher Quellen, hinzuerdacht oder nimmt Bezug auf mythologische Überlieferungen – ein nicht unproblematischer Ansatz, da Fakten und Fiktion bei „Dieses Land“ nicht immer klar zu trennen sind. Doch das erklärte Ziel des Bandes ist es, ein kämpferisches, heroisches Bild der Nachfahren der Ureinwohner zu vermitteln.

„Wir haben die Apokalypse überlebt“, schreibt Alicia Elliot im Vorwort. „Wenn man es genauer betrachtet, ist jeder indigene Mensch ein Held, einfach weil er existiert.“ Das trifft in Kanada offenbar auf großen Zuspruch: Die staatliche Rundfunkgesellschaft CBC hat „This Place“ (so der Originaltitel) zu einer Hörspielreihe verarbeitet, die auch hierzulande über die üblichen Podcast-Anbieter gestreamt werden kann.

„Comics können Aktivismus sein“

Einer der wichtigsten Vertreter der jungen Generation kanadischer Künstler, die ihre Comics als Beitrag zum politischen Diskurs verstehen, ist Cole Pauls. „Seine eigene Geschichte zu erzählen, das eigene Bild zu entwerfen, verleiht einem Kraft und Macht“, sagt der Zeichner im Gespräch mit dem Tagesspiegel. „Comics können Aktivismus sein.“

Das Titelbild von Cole Pauls' „Dakwäkãda Warriors“.
Das Titelbild von Cole Pauls' „Dakwäkãda Warriors“.

© Conundrum Press

Pauls ist Mitglied des Tahltan-Volkes und hat mit „Dakwäkãda Warriors“ (Conundrum Press, 112 S., 18 €) einen viel beachten Comic veröffentlicht, der die Geschichte seiner Vorfahren mit Science-Fiction-Motiven kombiniert.

Pauls bringt in seinem bislang noch nicht ins Deutsche übertragenen Werk die traditionelle Bildsprache der Völker der kanadischen Westküste mit Punk-Elementen zusammen, die an Underground- Comics früherer Jahrzehnte erinnern, dazu kommen Zitate aus Action- und Science-Fiction-Erzählungen des US-Mainstreams der 1980er und 90er Jahre.

Cole Pauls.
Cole Pauls.

© Lars von Törne

Und er lässt seine Figuren nicht auf Englisch sprechen, sondern in Southern Tutchone, der Sprache seiner Vorfahren, die lange nur heimlich gepflegt werden durfte. „Die Stimmen indigener Menschen sollten gehört werden, und zwar überall auf der Welt“, sagt Pauls.

Verlust, Schmerz und Rache

Einige der kunstvollsten indigenen Comics hat in den vergangenen Jahren Michael Nicoll Yahgulanaas geschaffen, der dem Volk der Haida angehört, das an der Westküste Kanadas lebt. Yahgulanaas wird in Kanada auch als bildender Künstler geschätzt und arbeitet derzeit an einem großen Wandbild für das Humboldt-Forum in Berlin, das im kommenden Jahr dort angebracht werden soll.

Das Titelbild von Michael Nicoll Yahgulanaas' „Red – A Haida Manga“.
Das Titelbild von Michael Nicoll Yahgulanaas' „Red – A Haida Manga“.

© Douglas & McIntyre

Seine Comics sind ebenfalls als Wandbilder konzipiert, die sich sowohl als ein zusammenhängendes Kunstwerk von mehreren Quadratmetern Größe wie auch in Buchform lesen lassen.

Yahgulanaas’ bekannteste Erzählung ist „Red – A Haida Manga“ (Douglas & McIntyre, 120 S., ca. 18 €), in der es um Themen wie Verlust, Schmerz und Rache geht. Basierend auf einer überlieferten Erzählung schildert „Red“, wie die Entführung der Schwester eines Stammesführers zu einer Spirale der Gewalt führt, die alle Beteiligten zu erfassen droht.

Das visualisiert der Künstler mit bunten Tuschebildern, fließenden Linien, ornamentalen Panelrahmen und surrealistischen Bildelementen, die der Haida-Mythologie entlehnt sind, aber auch Anklänge an japanische Bilderzählungen erkennen lassen. Ebenso kunstvoll ist Yahgulanaas’ zweiter Comic, „Carpe Fin“, der unter anderem davon handelt, welche Konflikte sich aus dem Zusammentreffen des traditionelle Lebensstils an der Westküste mit der modernen Welt ergeben.

Kreislauf von Traumata, Drogen und Gewalt

Die oft schwierigen Lebensbedingungen für Angehörige der „First Nations“ im Kanada der Gegenwart sind das Thema in mehreren Comics. Die junge Aktivistin Brianna Jonnie, die zum Ojibwe-Volk gehört, beschäftigt sich in ihrem von Neal Shannacappo skizzenhaft illustrierten Text „If I Go Missing“ mit der hohen Zahl indigener Frauen, die in Kanada Opfer von Gewaltverbrechen werden. Sie klagt die oft dürftigen Bemühungen der Polizei und der Behörden an, die Fälle aufzuklären.

Und die Métis-Autorin Patti LaBoucane-Benson, die eine Beratungseinrichtung für die indigene Bevölkerung der Provinz Alberta leitet, erzählt in ihrem zusammen mit dem Zeichner Kelly Mellings geschaffenen Graphic Novel „The Outside Circle“ vom Versuch eines jungen Mannes, dem Kreislauf von Traumata, Drogen und Gewalt zu entkommen, der das Leben vieler indigener Menschen in Kanada prägt.

Die historischen Ursachen dieser Traumata sind das Thema unter anderem im Werk des Autors und Aktivisten Gord Hill, der dem Volk der Kwakwaka’wakw angehört. Er lässt in seinem Buch „500 Years of Resistance“ die verheerenden Folgen der Kolonialisierung Nordamerikas seit der Ankunft von Christoph Kolumbus Revue passieren und legt dabei einen Schwerpunkt auf den Widerstand dagegen.

Unter dem Titel „Indigener Widerstand“ ist das Buch auch von Katja Anton Cronauer auf Deutsch übersetzt und 2013 im Verlag Edition AV veröffentlicht worden.

Ein Thema auch für nichtindigene Autoren

Die Historie der indigenen Bevölkerung ihres Landes haben in den vergangenen Jahren gelegentlich auch kanadische Autoren mit europäischen Wurzeln behandelt. So hat der in Québec geborene Zeichner Chester Brown die Biografie des Métis-Führers Louis Riel in minimalistischen Bildern und knappen Dialogen verdichtet.

Das Titelbild von Chester Browns „Louis Riel“.
Das Titelbild von Chester Browns „Louis Riel“.

© bahoe

Sein Buch, das seit Kurzem auch auf Deutsch vorliegt, vermittelt neben den kolonialen Verbrechen der kanadischen Regierung im 19. Jahrhundert und dem Widerstand dagegen ein durchaus ambivalentes Bild von Riel, der sich nicht nur als Befreiungskämpfer, sondern auch als von Gott auserwählter religiöser Führer sah.

Chester Browns „Louis Riel“ gehört inzwischen in vielen Schulen Kanadas zur Standardlektüre und ist in Kanada ein Bestseller.

Gleiches gilt für die Bilderzählung „Secret Path“ des Autors und Musikers Gord Downie von der Band The Tragically Hip und des Zeichners Jeff Lemire. Sie vermittelt basierend auf Songs von Downie das Schicksal des Ojibwe-Jungen Chanie Wenjack, der 1966 bei der Flucht aus einem Internat ums Leben kam.

Und immer wieder behandeln auch Autoren ohne kanadische Wurzeln die Thematik. Das prominenteste Beispiel ist der Comicreporter Joe Sacco, der in seinem aktuellen Buch „Wir gehören dem Land“ die Situation der indigenen Bewohner Kanadas auf Grundlage zahlreicher Interviews und Recherchen beschreibt - mehr dazu hier.

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