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Liebe im Verborgenen: Eine Szene aus „Parallel“.

© Reprodukt

Homosexualität im Comic: Im Schatten der Gesellschaft

Matthias Lehmann erzählt in seinem Comic „Parallel“ mit meisterhaften Bildern von einer homosexuellen Lebensgeschichte in Deutschland.

Karl Kling hat ein Leben gelebt wie Millionen anderer deutscher Männer. War Soldat im Zweiten Weltkrieg, wurde Vater, hat als Industriearbeiter geschuftet. Jetzt, Mitte der 80er Jahre, fügt er sich widerwillig ins Rentnerdasein. Ihm bleibt wenig, wofür sich zu leben lohnt. Zwei Ehen hat er an die Wand gefahren, zu seinen Kindern hat er seit Jahren keinen Kontakt mehr.

Eine weitere Seite aus „Parallel“.
Eine weitere Seite aus „Parallel“.

© Reprodukt

Als ein Freund ihm rät, seiner Tochter zu schreiben, fängt Karl an, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das Wühlen in Fotos und Erinnerungen bringt an den Tag, was Karl sich selbst lange nicht eingestehen konnte: Er liebt Männer.

Was das in der deutschen Nachkriegsgesellschaft bedeutet, zeichnet Matthias Lehmann in seinem Comic „Parallel“ (Reprodukt, 464 Seiten, 29 Euro) so einfühlsam wie meisterhaft nach. In seinen Aquarellbildern folgt er Karl wie mit einer versteckten Kamera durch die Jahrzehnte und beide Teile Deutschlands, in denen sein Anti-Held immer wieder versucht, sich ein „normales“ Leben aufzubauen – vergeblich.

Denn wenn es dämmert, zieht es Karl in Bars, öffentliche Toiletten, den Strand am Badesee. Dorthin, wo es auch andere schwule Männer zieht. Was auf Dauer nicht verborgen bleibt.

Seine parallelen Leben taucht Matthias Lehmann in Dutzende Schattierungen von Grau. Es wird zum grobkörnigen Fastschwarz, wenn Karl in sein zweites Leben aufbricht. Gleißend hell dagegen sind die Bilder des Alltags und der Fassade bürgerlichen Lebens. Selten hat es im Comic so viele gekonnt komponierte Szenen von Licht und Schatten gegeben.

Die Angst vor Bloßstellung und vor Prügeln

Besonders gelingen Lehmann stumme Bilder. Karls Gesten und Blicke sagen mehr über Begehren, Zweifel und Enttäuschung, als Worte es könnten. In ihnen lauert auch immer die Angst vor Bloßstellung. Und im schlimmsten Fall vor Prügeln.

Das Titelbild von „Parallel“.
Das Titelbild von „Parallel“.

© Reprodukt

Denn „Parallel“ ist auch ein Porträt gesellschaftlicher Verachtung gegenüber Homosexuellen, im Osten wie im Westen, in den 50ern wie in den 80er Jahren.

[Mehr über queere Themen in Comics gibt es unter anderem hier zu lesen: Frauenkleider verleihen Superkräfte, Wo die wilden Wesen wohnen, Der Moment, wenn du erkennst, dass du Frauen liebst. Der Tagesspiegel-Newsletter Queerspiegel erscheint monatlich, immer am dritten Donnerstag. Hier kostenlos anmelden]

Wortlastig sind der Comic und Karl vor allem, wenn er verbal um sich schlägt. Seinen eigenen Bedürfnissen muss er zu viel Gewalt antun, als dass noch Platz für die anderer wäre. Das überschreitet bisweilen die Grenze zur Egozentrik und könnte über 464 Seiten für Leser:innen mühsam werden. Wenn nicht sein Brief an Tochter Hella wäre, der sich in Abschnitten durch die Episoden des Comics zieht.

Hier benennt Karl in aller Härte, dass er als Vater und Mensch gescheitert ist. Ohne, dass er plötzlich zum Sympathieträger mutiert, markiert seine Abbitte die Chance für einen Neuanfang. Und ist nebenbei eine Absage ans Bild des unverwundbaren und unfehlbaren Mannes.

Silke Merten

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