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Ausgeliefert: Die junge Ich-Erzählerin unter feierfreudigen Erwachsenen.

© Reprodukt

Geneviève Castrée: „Ausgeliefert“: Kanadische Kindheitshölle

Die Autorin und Zeichnerin Geneviève Castrée erinnert sich in „Ausgeliefert“ an ihre traumatische Jugend.

Die Mutter liegt bekifft im Bett. Der Stiefvater wirft ihren Brief ungelesen in den Kamin. Sie darf keine Freunde mit nach Hause bringen und wird nachts zum Getränkekaufen geschickt. Was die Protagonistin von Geneviève Castrées „Ausgeliefert“ in ihrer Jugend in Québec und  Montréal durchmacht, ist eine Tortur. Die 1981 geborene Autorin hat sie selbst erlebt. In kurzen, prägnanten Episoden blick sie zurück – fast wie in einem nachträglich gezeichneten Tagebuch. Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass das Lettering in der Handschrift der Zeichnerin gehalten ist.

Genau wie die kleine Goglu – so Geneviève Castreés Kinderspitzname – versteht man beim Lesen erst nach und nach, dass mit dieser Familie etwas nicht stimmt. Der Vater verschwindet eines Nacht auf dem Motorrad, die Mutter zieht mit ihr zu ihrem neuen Freund, der kaum mit seiner Stieftochter spricht und wenn, ist er aggressiv und gemein. Die Mutter trinkt zu viel, ist überfordert und scheint Goglu unbewusst die Schuld dafür zu geben, dass ihr Leben anders läuft als sie sich das einmal vorgestellt hat. Schon mit 19 Jahren ist sie Mutter geworden.

Große Augen, plakative Gestik

Der Stil von „Ausgeliefert“ erinnert ein wenig an ein Kinderbuch, die Figuren haben große Augen, Gestik und Mimik sind bewusst plakativ gehalten. Die so erzeugte naiv-kindlichen Perspektive passt gut zu der Geschichte, die sich anfangs fast ausschließlich im Familienkreis abspielt. Als Teenager hat Goglu endlich auch einige Freunde – und macht erste Drogenerfahrungen. Zunehmend spielen auch Sozialarbeiter und Ärzte eine Rolle in ihrem Leben.

Selbstporträt: Die Ich-Erzählerin auf dem Buchcover.
Selbstporträt: Die Ich-Erzählerin auf dem Buchcover.

© Reprodukt

Geneviève Castrée, die heute als Künstlerin, Zeichnerin und Sängerin in den USA lebt, hat „Ausgeliefert“ nicht wie eine Abrechnung angelegt, sondern wie eine lakonische Schilderung. Eben ihre Version der Ereignisse. Diese Haltung ist eine große Stärke des schmalen Bandes, denn durch sie wird die Leserschaft ganz beiläufig auf die Seite der Kleinen gezogen.

Geneviève Castrée: Ausgeliefert, aus dem Französischen von Marion Herbert, Handlettering von Geneviève Castrée, Reprodukt, 80 Seiten, 16 Euro. Die Website von Geneviève Castrée findet sich hier.

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