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© Illustration: Vincent Mallié/Ehapa

Fantasy: Zwischen den Welten

Die Fantasy-Serie "Der große Tote" des französischen Szenaristen Loisel entwickelt sich in ihrem zweiten Band von der Konfektionsware zur Politparabel.

Es fällt schwer, der Fantasy nach Régis Loisel noch unschuldig zu begegnen. Wenn Glöckchen in seiner Version von „Peter Pan“ ihre Nebenbuhlerin Wendy ganz zweckrational dem Krokodil zum Fraß vorwirft, weil sie zu kalkulieren weiß, dass im Nimmerland die Erinnerung allenfalls ein paar Tage anhält, ihre Tat also bald vergessen sein wird, dann ist dies auch die Transformation des mythologischen Kerns eines Genregerüsts: Nämlich, dass das Gute und Schöne bereits in sich nur ambivalent statt dichotom zu denken ist.

Die Arbeiten des französischen Zeichners und Szenaristen Loisel bestechen durch ein dichtes Charakterdesign, eingebettet in ein Setting, das Gegensatzpaare auslotet und dadurch den Weg zu seiner speziellen Form einer tragischen Poesie findet: die Verflechtung von Verlustangst und Verdrängung in einer Fantasy-Welt in „Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit“ sowie die Verschränkung von kindlicher Unschuld mit Destruktion und grausamer sozialer Realität in „Peter Pan“ sind zwei Beispiele dafür, wie diese Methode ein totes Genre wiederbeleben kann.

Von Gegensatzpaaren war im letzten Jahr erschienenen ersten Band von „Der große Tote“ höchstens allzu bekanntes Allgemeingut zu bemerken, nämlich die Konfrontation eines rationalistischen Weltbildes mit den metaphysischen Sphären einer anderen Welt.

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Traumwelt. Der Besuch von Pauline und Erwan beim "kleinen Volk" verläuft anders als geplant.

© Illustration: Vincent Mallié/Ehapa

Zu bieder und inhaltlich inkonsistent kam die Quest der Studentin Pauline daher, die es zufällig in das Reich des kleinen Volkes verschlägt, nachdem sie vom gutmütigen Erwan bei einer Autopanne in der französischen Provinz aufgelesen und von seinem Auftrag als Vermittler zwischen den vier Völkern unterrichtet wird.

Ausgestattet mit Merkmalen, die in erster Linie Geschlechterstereotypien und Intellektuellenressentiments verrieten, war es schon relativ egal, wie willfährig die eigentlich als Skeptikerin (weil Studentin, weil unnahbares, darum aber insgeheim eben auch begehrendes und darob die guten Absichten des verantwortungsbewussten Erwan gefährdendes Weib) etablierte Pauline die Existenz dieser Parallelwelt akzeptierte. So schön der Strich Malliès auch der mimischen und gestalterischen Akribie Loisels glich, so wenig war dessen Anteil als Szenarist identifizierbar.

Das ist sicher einer der Gründe, warum die temporäre Bewertung eines Einzelbandes innerhalb einer noch unabgeschlossenen Erzählung so schwierig ist: Es ist bloß der Blick auf ein Passagenwerk, und die ersten 100 Seiten eines etwa 300-seitigen Romans sind und bleiben nun mal ein Fragment.

Mit dem jetzt veröffentlichten zweiten Band „Pauline“ bleibt der Antagonismus zweier Welten mit eigenen Gesetzmäßigkeiten zwar bestehen, er erhält nun aber eine fast dystopische, allerdings um Realismus bemühte Rahmung.

Denn ein wenige Wochen andauernder Aufenthalt im Reich des kleinen Volkes entspricht unter Umständen einigen Jahren auf der Erde. Und so kommt es durch unerwartete Komplikationen – der Befriedungsversuch stellt sich als Intrigenspiel heraus – dazu, dass Pauline und Erwan zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihre Gegenwart zurückkehren, die nun allerdings das Jahr 2011 erreicht hat. Die Suche Erwarns gilt im zweiten Band nun Pauline. Und hier ergibt sich für Loisel nun erneut die Möglichkeit, seine Gegensatzpaare schärfer zu entfalten. Auch wenn es bislang an einer Erklärung fehlt, warum Pauline, trotz nie vollzogenen Akts und des darüber hinaus biologisch völlig unmöglichen Zeitpunkts der Geburt, eine Tochter besitzt.

Viel drastischer offenbart sich indes aber der in diesem kurzen Zeitraum schlagartig beschleunigte Verfall der Welt. Erwans Spurensuche ist auch ein sukzessives, gleichzeitiges Sich-Herantasten an diese neuen Verhältnisse: Der Weg in die Stadt führt vorbei an verendeten Kühen, vergifteten Bächen, und der urbane Raum selbst schafft es nicht mehr, dass Elend seiner Bewohner zu verbergen.

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© H.Willmann

Das häufigste Accessoire sind Atemschutzmasken, und auf den öffentlichen Plätzen campieren die deklassierten Überreste der Multitude.

Wie stark dieser Umschwung zur politischen Parabel den Plot bestimmen wird, bleibt abzuwarten. Es ist aber in der Tat beklemmend mitanzusehen, wie behutsam Loisel seinen Protagonisten diese neue alte Welt erforschen lässt, ohne ein großes Inferno zu entfachen, sondern schlicht ökonomische und politische Wahrscheinlichkeiten durchdekliniert. Dabei bemüht er aber nicht etwa den so oft anzutreffenden Kontrast von wahrhaftiger Natur und menschlichem Destruktionszwang, sondern etabliert vielmehr ein dezentes Gefühl der Ausweglosigkeit. Bei gleich zwei abweisenden Welten fällt es schwer, einer von ihnen den Vorzug zu geben.

Loisel/JB Djian/Malliè/Lapierre: Der große Tote. Bislang zwei Bände à 64 Seiten, je 12 Euro,
Ehapa Comic Collection.

Sven Jachmann

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