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Außen Eis, innen heiß: Eine Szene aus Bernadette Schweihoffs Buch „treiben“.

© Edition Moderne

Eine Zeichnerin auf Russland-Reise: Kein Ort der unbegrenzten Freiheit

Eine Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn wird für die Künstlerin Bernadette Schweihoff zur Reise in die eigene Beziehungsgeschichte.

Eine Reise durch das größte Land der Welt – spätestens seit Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine vor über einem Monat ist das nicht mehr vorstellbar. Im Winter 2019/2020, kurz bevor die Corona-Pandemie die Welt in ihren Bann nahm, fuhren die in Berlin lebende Künstlerin Bernadette Schweihoff und ihr Partner Frank mit der transsibirischen Eisenbahn von Moskau bis nach Wladiwostok am Pazifik.

Eine weitere Szene aus „treiben“.
Eine weitere Szene aus „treiben“.

© Edition Moderne

Aus den Eindrücken entstand der kürzlich beim Schweizer Comic-Verlag Edition Moderne erschienene Band „treiben“ (Edition Moderne, 168 Seiten, 24 Euro), Schweihoffs Comic-Debüt und zugleich ihre Bachelor-Arbeit an der privaten University of Europe for Applied Sciences Berlin (ehemals BTK).

„treiben“ lässt sich am ehesten als autobiografischer und sehr persönlicher Reisebericht beschreiben. In atmosphärischen, teils enigmatischen Zeichnungen hält Schweihoff Augenblicke, Bilder und Gedanken fest, die ihre Reise prägten.

Landschaftsskizzen wechseln sich ab mit auf Fotos und Handy-Screenshots basierenden Zeichnungen. Daneben finden sich in kurzen Texten ihre Gedanken auf der Reise oder längere Erzählungen aus der Vergangenheit des Paares, das sich seit 14 Jahren kennt und dessen Beziehung sich im Lauf der Reise als vertrauensvoll und sinnlich erweist.

In den Bildern, die den Panorama-Blick aus dem Zugfenster gut nachempfinden, nimmt Schweihoff die Leser:innen mit auf die Reise, es entsteht zunächst ein ruhiger Rhythmus, der fast filmisch ist. Die Zeichnungen ergeben ein sinnliches Ganzes, das den nach innen gekehrten, beobachtenden Charakter des Tagebuchs in Bilder fasst und die Stille und Weite der Landschaft nachvollziehbar macht.

Etwa in der Ruhe des Paars im Umgang miteinander, wenn es sich liebt, durch den Schnee stapft und sich in Selfies verewigt. Im Lauf der Erzählung fasert der Rhythmus jedoch auf, die Verbindungen zwischen den assoziativ aneinander gereihten Erinnerungen und Gedanken sind teilweise schwer nachvollziehbar.

Sex soll die Spannung lösen, doch das Abteil ist zu eng

Während offen dargestellte Erotik selbst wie eine Art Maske wirken kann, sind es eher Klarnamen oder Schweihoffs Äußerungen über ihren Partner, die stellenweise irritieren und die für Außenstehende keine dramaturgische Notwendigkeit haben. An einigen Stellen wirkt es, als sei das Buch eher für den Freundeskreis erzählt.

Die Erzählerin und ihr Partner bei einem Zwischenstopp.
Die Erzählerin und ihr Partner bei einem Zwischenstopp.

© Edition Moderne

Der Band wird farblich dominiert von Blau- und Rottönen, die sich etwa in den warmen Körpern und der eisigen Kälte des winterlichen Sibiriens gegenüberstehen. Während draußen die Temperaturen weit unterhalb des Gefrierpunkts liegen, ist es im Zug zu heiß. Die Protagonisten liegen in Unterwäsche auf ihren Pritschen. Ihre Körper scheinen massiv und riesig in dem kleinen Raum, gleichzeitig wirken sie weich und vertraut in ihrer Unperfektheit.

[„Unterwegs mit der transsibirischen Eisenbahn - vom Tagebuch zur Graphic Novel“: Ausstellung in der Kommunalen Galerie Berlin bis 29. Mai 2022. Eröffnung am Sonntag, 3. April, 11-17 Uhr, 12 Uhr: Begrüßung und Einführung.]

Sex soll die Spannung lösen, doch das Abteil ist zu eng. Die Protagonistin masturbiert schließlich, in expliziten Darstellungen, auf der Zug-Toilette. Unterstützung holt sie sich – via Chat – bei einem Kontakt aus dem Berliner KitKatClub.

Den KitKatClub, in dem seit über 20 Jahren Techno, Fetisch und Sex zum ungezügelten Hedonismus einladen und der laut Schweihoff der einzige „Ort, an dem ich als Frau nackt tanzen kann, ohne belästigt zu werden“ ist, stellt sie in ihren Reisegedanken in unmittelbaren Bezug zur unendlichen Weite und Einsamkeit der russischen Landschaft: „Ich habe mich zweimal in meinem Leben sicher und frei gefühlt. […]: samstags im KitKatClub und auf der Transsib.“

[Die schönsten Schnee-Comics der Welt - eine Sammlung herausragend gezeichneter Winterszenen aus aller Welt finden Sie hier.]

Auch wenn Schweihoff nicht wissen konnte, dass Russland zurzeit des Erscheinens ihres Buchs einen international verurteilten Krieg gegen die Ukraine führen würde, hinterlassen Äußerungen wie diese Fragezeichen.

Dass Russland auch 2019/2020 nicht bekannt für seine Freiheiten war, blendet Schweihoff offenbar aus – oder sie bezieht die unsichere Situation in Russland, unter der zum Zeitpunkt ihrer Reise auch Frauen und kritische Kunstschaffende litten, nicht auf sich.

Eine Durchfahrt mit kurzen Zwischenstopps

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International berichtet im Jahresrückblick unter anderem von willkürlichen Inhaftierungen, flächendeckender Korruption, Folter, eingeschränkter Presse-, Religions-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie fortgesetzter Diskriminierung, Schikane und Gewalt gegenüber LGBTI.

Das Titelbild des besprochenen Buches.
Das Titelbild des besprochenen Buches.

© Edition Moderne

Auch die Transsib hat eine düstere Geschichte. Für den Bau, bei dem aufgrund mangelhafter Arbeitssicherheit und schlechter medizinischer Versorgung Zehntausende Arbeiter starben, wurden auch Strafgefangene und Zwangsarbeiter eingesetzt.

[Von Größenwahn gezeichnet: So sehen Comiczeichner Putin und sein Regime.]

Vor diesem Hintergrund bleibt die Reisebeschreibung Schweihoffs stark an der Oberfläche. „treiben“ ist, nicht nur physisch, ein Durchfahren des Landes, ein Blick durch ein Fenster auf einer vorgegebenen Strecke, mit kurzen Zwischenstopps in der Kälte, in der man in erster Linie mit sich beschäftigt ist.

Dies nimmt der Handlung die Tiefe und es entsteht bei der Lektüre des schön gestalteten Bandes der Eindruck, dass Russland Schweihoff lediglich als Kulisse dient für die sehr persönlichen Bezüge, die im Buch präsentiert werden.

Die im Juli geplante Reise nach Kamtschatka im fernen Osten der Russischen Föderation, wo das Paar einen Monat in einem Zelt bei den Bären wohnen will, wird wohl kaum stattfinden können.

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