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Top-Titel: Szenen aus den sechs Favoriten der Tagesspiegel-Jury.

© Promo

Die Tagesspiegel-Jury hat gewählt: Die besten Comics des Jahres

Angesichts der vielen guten Neuerscheinungen war die Wahl schwierig. Jetzt hat die Tagesspiegel-Jury sich entschieden - hier die besten Comics 2017.

Der Sieger ist ein alter Bekannter. Vor fünf Jahren wurde der erste Band von Manu Larcenets Comic-Erzählung „Blast“ von einer Expertenrunde des Tagesspiegels als bester Comic des Jahres 2012 ausgezeichnet. Und 2015 gelangte der vierte und letzte Band von „Blast“ ebenfalls auf die Bestenliste der mittlerweile neu zusammengesetzten Jury. In diesem Jahr ist der französische Zeichner wieder dabei: Seine vor zwei Monaten auf Deutsch erschienene Romanadaption „Brodecks Bericht“ (Reprodukt, 328 S., 39 €) wurde von der Tagesspiegel-Jury jetzt zum besten Comic des Jahres 2017 gewählt.

„Eine finstere Geschichte, erzählt in starken Bildern“, urteilt die Kulturjournalistin Barbara Buchholz (hier geht es zu ihren Top-5-Titeln samt Begründungen). Die Erzählung ist in einem abgelegenen Bergdorf mutmaßlich nach dem Zweiten Weltkrieg angesiedelt. Dessen Bewohner beauftragen den Außenseiter Brodeck, einen Bericht über einen Mord zu schreiben, den sie an einem Mann begangen haben, den sie nur „den Anderen“ nennen. Für seinen Comic hat sich Larcenet die Romanvorlage von Philippe Claudel „zu eigen gemacht und sich die nötigen Freiheiten genommen“, urteilt Buchholz.

Das Cover von "Brodecks Bericht".
Das Cover von "Brodecks Bericht".

© Reprodukt

„Aus tiefschwarzer, hier und da mit Bürsten zerkratzter Tusche im krassen Kontrast mit weißen Flächen und Flocken erschafft Manu Larcenet den Schauplatz; dessen Bewohner mit ihren zerfurchten Gesichtern wirken so unheimlich und bedrohlich wie die Winterlandschaft.“

Zum inzwischen sechsten Mal hatte der Tagesspiegel eine Fachjury eingeladen, die besten Titel der vergangenen zwölf Monate zu ermitteln – parallel zur Leserumfrage, deren Ergebnisse online hier veröffentlicht wurden.

Die Shortlist. Für Gesamtansicht bitte auf das Kreuz-Symbol klicken.
Die Shortlist. Für Gesamtansicht bitte auf das Kreuz-Symbol klicken.

© Fabian Bartel

Wie im Vorjahr bestand die Expertenrunde aus drei Fachhändlern und drei Journalisten. Aus den jeweils fünf Favoriten der einzelnen Mitglieder ergab sich eine Shortlist mit sechs Titeln, über die abschließend abgestimmt wurde – siehe Tabelle.

Auf den zweiten Platz kam eine Berliner Autorin und Zeichnerin: Ulli Lust mit „Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“ (Suhrkamp, 367 S., 25 €), ihrer zweiten längeren autobiografischen Comic-Erzählung. „Ulli Lust hat Erotik aus weiblicher Perspektive gezeichnet“, heißt es in der Begründung von Kulturjournalistin Andrea Heinze (hier geht es zu ihren Top-5-Titeln samt Begründungen). „Das ist schon deshalb besonders, weil es dafür in der westlichen Welt – anders als zum Beispiel im japanischen Manga – überhaupt keine Tradition gibt.“

Da Cover von "Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein".
Da Cover von "Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein".

© Suhrkamp

Die Bilder, die die Zeichnerin für ihre Lust findet, „sind kraftvoll, ungewohnt und mutig“. Zudem besteche „Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“ durch eine ausgezeichnet erzählte Geschichte: „Ulli Lust zeigt neben all der Erotik auch die Probleme, die eine offene Dreierbeziehung mit sich bringen kann.“ Zum Beispiel, wie Eifersucht in Brutalität gipfelt. „Und es ist gar nicht so leicht, da rauszufinden, weil Erotik einen starken Sog entwickeln kann.“

Eine weitere autobiografische Erzählung schaffte es auf Platz drei: „so tun als ob heißt lügen“ (Avant, 148 S., 29,95 €) von Dominique Goblet. Die belgische Avantgarde-Comic-Künstlerin „verweigert sich darin der einfachen, linearen Erzählform und springt gekonnt durch die verschiedenen Zeitebenen ihrer Lebensabschnitte“, urteilt Gesine Claus vom Hamburger Comicladen „Strips & Stories“ (hier geht es zu ihren Top-5-Titeln samt Begründungen).

Das Cover von "so tun als ob heißt lügen".
Das Cover von "so tun als ob heißt lügen".

© Avant

Kompromisslos erzähle Goblet eine außergewöhnliche Biografie, „geprägt von der groben Vernachlässigung durch den alkoholkranken Vater und einer Mutter, die in kaum aushaltbarer Ambivalenz zwischen liebevoller Zuneigung und grausamen Bestrafungen pendelt“. Wie sich diese Erfahrungen auf das eigene Leben auswirken, beschreibe Goblet „mit einer sprachlos machenden Intensität“.

Der US-Autor und Zeichner Dan Clowes („Ghost World“) kommt mit seinem Buch „Patience“ (Reprodukt, 180 S., 29 €) auf Platz vier. Darin geht es um einen Mord, um die Suche nach Antworten und um Zeitreisen, die die Hauptfigur immer wieder zum Tag des Mordes führen.

Das Cover von "Patience".
Das Cover von "Patience".

© Reprodukt

Wie schon in seinen früheren Werken sei auch hier Clowes’ Thema aber vor allem wieder „die Leere zwischen den Menschen, ihre Kälte, die sich in Zynismus und oft auch in Gewalt äußert“, urteilt Micha Wießler vom Berliner Comicladen „Modern Graphics“ (hier geht es zu seinen Top-5-Titeln samt Begründungen). Durch den Blick der Außenseiter seziere Clowes die amerikanische Gesellschaft. Wießlers Fazit: „Der beste Dan Clowes seit Langem.“

Auf dem fünften Platz: „Der Ursprung der Welt“ (Avant, 140 S., 19,95 €) von Liv Strömquist. „Endlich ein Comic, der sich des Themas Vulva annimmt“, urteilt Gesine Claus – „sorgsam recherchiert, perfekte Satire, erhellende Aufklärung und kluge Gesellschaftsanalyse.“

Das Cover von "Der Ursprung der Welt".
Das Cover von "Der Ursprung der Welt".

© Avant

In ihrem Buch betrachte die Künstlerin und Politikwissenschaftlerin Strömquist, die in Schweden eine der einflussreichsten Feministinnen ist, „eingehend die kulturhistorischen Machtstrukturen, die zur Abwertung und Tabuisierung der weiblichen Geschlechtsorgane geführt haben und stellt diese mit sarkastischem Humor bloß“. Spielend gelinge es Strömquist, mit ihren Zeichnungen und durch cleveres Lettering, „den Comic zu einem absoluten Lesevergnügen zu machen“.

Auf Platz sechs kommt der Belgier Romain Renard mit seiner Album-Reihe „Melvile“ (Splitter, bislang zwei Bände, 136/208 S., 24,80/34,80 €). Erzählt werden darin Episoden aus dem Leben der Menschen in einem von riesigen Wäldern umgebenen 500-Seelen-Ort in Kanada, in dem die scheinbare Idylle in sich zusammenbricht.

Das Cover von "Melvile", Band 2.
Das Cover von "Melvile", Band 2.

© Splitter

„Der Reiz des Buches liegt vor allem in der Art, wie erzählt wird“, urteilt Frank Wochatz vom Berliner Fachgeschäft „Comics & Graphics“ (hier geht es zu seinen Top-5-Titeln samt Begründungen). Neben dem narrativen Element sei der Comic zugleich Artbook und multimediales Kunstprojekt – und biete „eines der intensivsten Leseerlebnisse, das man in einem Comic haben kann“.

Zur Jury gehörte zudem Tagesspiegel-Redakteur Lars von Törne, seine Top-5-Titel finden sich hier.

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