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Sturmhöhe à la Kate Beaton: Einer von mehreren Strips, der sich mit dem Roman von Emily Brontë beschäftigt.

© Zwerchfell

Comiczeichnerin Kate Beaton im Interview: „Wir lernten die Geschichte der Siedler und der großen Männer“

Die kanadische Comiczeichnerin Kate Beaton über ihren speziellen Blick auf Kultur und Geschichte, den Sammelband „Zur Seite, Kerl!“ und ihr nächstes Comicprojekt.

Fast zehn Jahre lang hat Kate Beaton (38) in ihrem vielfach ausgezeichneten Webcomic „Hark! A Vagrant“ Literaturklassiker und andere kulturelle Werke persifliert sowie fröhlich die Geschichte der Welt und ihres Heimatlandes Kanada umgeschrieben. Kürzlich ist nach dem Buch „Obacht! Lumpenpack“ ein zweiter Sammelband der 2018 beendeten Serie auf Deutsch im Stuttgarter Zwerchfell-Verlag erschienen: „Zur Seite, Kerl!“ (Übersetzung Jan Dinter, Lettering Asja Wiegand, 168 S., 24 €). Lars von Törne hat Beaton interviewt.

Kate Beaton.
Kate Beaton.

© Notker Mahr

Kate Beaton, Sie haben einen Hochschulabschluss in Geschichte. Waren Ihre Comics ein Ventil für Sie, um das zu verarbeiten, was Sie an der Universität erlebt haben?

Ja, darum ging es am Anfang vor allem. Ich hatte an der Universität angefangen, Comics für die Hochschulzeitung zu zeichnen. Meine frühen „Hark!“-Strips waren eine Fortsetzung davon. Ich hatte mehrere Professoren, die ihre Vorlesungen mit Witz anreicherten. Das hat dazu geführt, dass wir ihnen umso lieber zuhören wollten.

Viele Ihrer Comics beziehen sich auf die britische und französische Geschichte und deren hegemoniales Verständnis, auch im Bezug auf Kanada und dessen Besiedelung durch Europäer. Wie sehr war diese Perspektive in Kanada während Ihrer Schul- und Studienzeit dominant – und wie sehr hat sie sich in den vergangenen Jahren verändert?

Oh, das hat sich sehr verändert. Vor allem das Internet hat dazu in jüngster Zeit einen großen Beitrag geleistet. Insbesondere durch sein Potenzial, Stimmen hörbar zu machen, die zuvor zum Schweigen gebracht wurden. Das kanadische Wissen über die indigene Geschichte sowie den Kolonialismus und seinen langen Schatten war wirklich unterdurchschnittlich.

In welcher Hinsicht?

Wir lernten in der Schule die Geschichte der Siedler und der großen Männer. Es gab höchstens mal eine Andeutung hier und da bezüglich Gruppen wie der indigenen Völker, der Frauen oder der People of Color. Daher dachte ich anfangs, dass es ausreichen würde, diese mächtigen weißen Männer albern aussehen zu lassen, ohne ihre Rolle im Siedlerkolonialismus kritischer zu analysieren. Gott sei Dank hat sich die Situation inzwischen geändert, weil wir uns mit dem Rassismus unserer Vergangenheit sowie unserem Umgang mit Geschlecht, Kapitalismus, Umweltschutz und so weiter auf prominentere Weise als je zuvor beschäftigen. Wenn ich heute noch mal mit meinen „Hark!“-Strips anfänge, sähen die ganz anders aus.

Auch musikalische Ikonen wie Chopin und Liszt sind vor der Zeichnerin nicht sicher.
Auch musikalische Ikonen wie Chopin und Liszt sind vor der Zeichnerin nicht sicher.

© Zwerchfell

Wie sehr hat sich Ihr eigenes Geschichts- und Kulturverständnis auch durch Arbeit an Ihren Comics verändert?

Sehr! Vieles davon verdanke ich auch meinem Publikum. Wenn etwas bei den Leuten nicht gut ankam, haben sie es mir gesagt. Und ich habe zugehört und es mir zu Herzen genommen. Man hat ja nur seine eigenen Erfahrungen und blinde Flecken im Bezug auf die von anderen Menschen. Ich habe mein Verständnis von Geschichte und Kultur in den vergangenen Jahren auch durch den Diskurs erweitert, der dazu im Internet stattfindet, wo Menschen einem Dinge und Perspektiven beigebracht haben, die man vorher nicht wirklich kannte. Meiner Meinung nach ist das Wichtigste, was man tun kann, zuzuhören und zu verstehen.

Inwiefern sind Ihre Strips aus spontanen Ideen entstanden, und inwieweit haben Sie sich systematisch mit bestimmten Epochen oder kulturellen Themen auseinandergesetzt?

Manchmal entstanden die Strips spontan, wenn ich irgend etwas gelesen habe, daraus eine Idee entstand, und ich mich dann in das Thema vertieft habe. Ich habe versucht, viel zu lesen, um derartige Momente zu erreichen. Aber manchmal blieb ich bei dem, was ich bereits wusste, wo ich mich wohl fühlte, nur weil ich es mit einer Zeit oder einem Ort oder einer Person zu tun hatte, mit der ich vertraut war. Deshalb sieht man viel aus bestimmten Bereichen der Geschichte oder Literatur. Ich habe nie behauptet, ein globaler Gelehrter von Raum und Zeit zu sein, ich bin nur eine Person.

Das Titelbild von „Zur Seite, Kerl!“.
Das Titelbild von „Zur Seite, Kerl!“.

© Zwerchfell

Für das deutsche Publikum erscheint jetzt „Step Aside, Pops“ als Ihr neues Buch. Sie haben Ihren Strip allerdings schon vor einigen Jahren beendet, um sich auf andere Projekte zu konzentrieren. Was denken Sie, wenn Sie bei dieser Gelegenheit auf Ihre eigenen Arbeiten aus der Vergangenheit zurückblicken, die in diesem Buch gesammelt wurden?

Es ist lustig. Mein Leben hat sich sehr verändert. Ich habe den Strip damals ungefähr zehn Jahre oder länger gemacht, und ich war am Schluss nicht mehr dieselbe Person wie zu Beginn. Man wächst, Prioritäten ändern sich. Ich arbeite jetzt zum Beispiel an einer Graphic Novel, die voraussichtlich nächstes Jahr herauskommt. Ich habe auch an Bilderbüchern gearbeitet und an einer Fernsehsendung. Und ich habe jetzt eine Familie! Es gibt viel Abwechslung, das ist gut. Aber ich bin immer dankbar für alles, was mir die Geschichtscomics gegeben haben, ich habe eine Beziehung zu einem großartigen Publikum aufgebaut, ich bin als Person gewachsen. Ich habe Karriere gemacht. Was könnte man mehr verlangen?

[Kanada ist derzeit Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Mehr zu neuen Comics kanadischer Autor*innen gibt es unter anderem hier und hier.]

Kürzlich hat Ihr kanadischer Verlag Drawn and Quarterly erste Einblicke in ihr autobiografisches Graphic-Novel-Projekt „Ducks“ veröffentlicht, das im kommenden Jahr erscheinen soll. Können Sie uns ein wenig über dieses Buch erzählen, das ihre Erfahrungen bei der Arbeit in den umstrittenen Ölsand-Feldern in der kanadischen Provinz Alberta verarbeitet und von dem Sie vor einiger Zeit online einige erste Seiten geteilt haben?

Die online veröffentlichten Seiten aus „Ducks“ waren eine Art Testballon, um zu sehen, ob die Leute gut reagieren würden, wenn ich als Thema meine Zeit in den nordkanadischen Ölsand-Feldern behandeln würde. Die Rückmeldungen waren positiv, also fing ich an, daraus ein Buch zu machen. Ich habe so etwas noch nie ausprobiert, also hoffe ich nur, dass es gut wird. Es sind weit über 400 Seiten, wir werden wahrscheinlich ein paar Kürzungen vornehmen müssen, aber ich hatte einfach so viel zu erzählen. Über Klasse, Geschlecht, Migration, Wirtschaft, Umwelt, solche Sachen. Die Ölsandindustrie in Kanada ist riesig, dort wird Bitumen aus dem Boden abgebaut und das Öl ausgepresst. Das tägliche Leben dort ist auch in Kanada für die meisten Menschen, die noch nie dort waren und nur an riesige Maschinen und Konzerne denken, ein Rätsel. Ich bin dort zum Arbeiten hingegangen, um meine Studienkredite abzubezahlen, weil Leute aus meinem Teil Kanadas einfach dorthin gehen, um berufliche Möglichkeiten zu haben. Mein Buch handelt von den Menschen, die im öffentlichen Gespräch über diese Art der Ölförderung weitgehend unsichtbar sind.

Kanada ist in diesem Oktober Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Welche Arbeiten kanadischer Comicschaffender empfehlen Sie dem deutschen Publikum?

Kolleginnen und Kollegen wie Jillian Tamaki und Michael DeForge sind wirklich unübertrefflich. Alles, was Ryan North schreibt, ist wunderbar. Und die ganze Liste der Künstlerinnen und Künstler, die beim Verlag Drawn and Quarterly veröffentlichen, ist erstklassig. Wenn man ein kleines Land ist, das gegen die riesige Maschinerie der US-Kultur antritt, ist man stolz, so viele Talente zu haben, die international anerkannt sind.

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