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Farbe und Geometrie werden Protagonisten: Eine Szene aus „Doktor Jekyll & Mister Hyde“.

© Carlsen

Comicsalon Erlangen: Der Grenzverwischer

Der Comic-Pionier Lorenzo Mattotti wird in diesem Jahr mit dem Max-und-Moritz-Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Wir dokumentieren die Begründung für seine Ehrung.

Lorenzo Mattotti wurde am 24. Januar 1954 in Brescia geboren. Noch in der Schule hatte er eine wichtige Begegnung, denn er lernte Fabrizio Ostani kennen, der später unter dem Namen Jerry Kramsky Szenarios für bedeutende Alben Mattottis schreiben sollte („Flüster“, „Labyrinthe“, „Doktor Jekyll & Mister Hyde“). Selbstverständlich las er als Kind „Fumetti“, wie Comics in Italien heißen. Und noch während seines Architektur-Studiums in Venedig begann er, in diesem Genre zu arbeiten. In den Zeitschriften „Re Nudo“ und „La Bancarella“ veröffentlichte er Geschichten, die eher dem Comic-Mainstream angehörten. Für eine Anthologie des Verlags Mondograf zeichnete er eine Episode aus dem Leben Casanovas (1976). Ein Jahr später kam es zur ersten Zusammenarbeit mit Kramsky. Gemeinsam schufen sie das Album „Alice Brum Brum“, auf das eine Adaption der Abenteuer von Huckleberry Finn folgte.

Wenn Inhalt in Form umschlägt

Mattotti war im Geschäft. Anfang der 1980er-Jahre gründete er mit Künstlern aus Mailand und Bologna, darunter Giorgio Carpenteri, Daniele Brolli, Marcello Jori, Jerry Kramsky und Igort (Igor Tuveri), eine Gemeinschaft, die sich – nach einem Motoröl – „Valvoline“ nannte. Die Gruppe wollte die Grenzen zwischen den Freien Künsten und der angewandten Kunst verwischen – ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Comics zur Neunten Kunst. Nun wurden stereotypisierte Formen und Erzählmethoden in die Offenheit des Kunstanspruchs überführt. Auch der amerikanische Comic-Künstler Charles Burns gehörte der Gruppe „Valvoline“ eine Zeit lang an.

Wird Anfang Juni in Erlangen gefeiert: Lorenzo Mattotti.
Wird Anfang Juni in Erlangen gefeiert: Lorenzo Mattotti.

© Cantais Ludovic/Comicsalon Erlangen

Die Qualität der neuen Kunstfreiheit im sequenziellen Erzählen schlug erstmals in Mattottis Album „Spartaco. Reisen eines Epizentrikers“ (1983; Deutsch: Edition 52) durch. Leuchtende Farben in Wachskreiden, Figurationen aus dem Fundus der Pop Art und surrealistische Traumkonstruktionen in der Handlung setzten völlig neue Akzente. Endgültig perfektionierte Mattotti sie mit dem Album „Feuer“ (1986; Deutsch: Edition Kunst der Comics/Carlsen Verlag), das ihn international bekannt machte. „Feuer“ – vordergründig eine Geschichte aus dem Krieg – handelt tatsächlich von der Begegnung der Zivilisation mit dem Elementaren in Natur und Kunst. Hier schlägt Inhalt in Form um. Farbe und Geometrie werden zu Protagonisten. Malerischer Neo-Expressionismus erobert das Comic-Medium.

Jüngere Künstler wie Manuele Fior sind von Mattotti geprägt

Von da an lassen sich bei Mattotti zwischen dem Comic-Künstler, dem Illustrator und dem Bildenden Künstler keine Grenzen mehr ziehen. Er produziert weiter Comic-Romane wie „Labyrinthe“ (1988), „Flüster“ (1989), „Der Mann am Fenster“ (1992), „Caboto“ (1993), „Stigmata“ (1998; Deutsch: alle zunächst Edition Kunst der Comics) und „Doktor Jekyll & Mister Hyde“ (2002; Deutsch: Carlsen Verlag). Zugleich arbeitet er für „Liberation“, „Le Monde“, „Süddeutsche Zeitung“, „The New Yorker“, veröffentlichte 2001 in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ die ganzseitige Fortsetzungsgeschichte „Der Klang des Rauhreifs“ (Carlsen Verlag, 2003) und realisiert Literaturprojekte, darunter „Pinocchio“, „The Raven“ und „Hänsel und Gretel“. Außerdem wirkt er in seinem Pariser Atelier am Design von Spielfilmen der Regisseure Wong Kar-Wai, Steven Soderbergh und Michelangelo Antonioni mit. Sein Werk wurde in einer Reihe großer Einzelausstellungen (unter anderem 2006 in Erlangen) gewürdigt. Neben zwei Max und Moritz-Preisen (für „Feuer“, Erlangen 1992 und für „Der Mann am Fenster“, Hamburg 1993) wurde Mattotti unter anderem als erster Europäer mit dem amerikanischen Eisner-Award ausgezeichnet.

An manchen jungen Comic-Künstlern kann man buchstäblich ablesen, wie groß der Einfluss von Lorenzo Mattotti auf die aktuelle Szene des grafischen Erzählens ist. Da ist zum Beispiel sein 2011 in Angoulême für das beste Album ausgezeichneter Landsmann Manuele Fior. Seine Anfänge sind unübersehbar von Mattotti geprägt. Der Linien-Dschungel in Fiors früher Kurzgeschichte „Giorgio e il drago“ ist inspiriert von den Tuschenetzen, die Mattotti in seinen Schwarzweiß-Romanen „Der Mann am Fenster“ und „Stigmata“ über das Papier der Buchseiten gesponnen hat und die er in „Hänsel und Gretel“ zu bedrohlichen Kulissen verdichtet. So entfalten sich Stilformen in Bezug zueinander. Mattotti hat die argentinischen Comic- Künstler Alberto Breccia und Jose Muñoz als Vorbilder genannt. Inzwischen jedoch ist er selbst zur wichtigen Inspirationsquelle geworden.

In deutscher Sprache sind von Mattotti zuletzt erschienen:
– Hänsel und Gretel. Jacob und Wilhelm Grimm. Carlsen Verlag, 2011
– Venedig, eingegraben in Wasser. edition noir, 2011
– Schimäre. avant-verlag, 2006
– Spartaco – Reisen eines Epizentrikers. Übersetzung: Kai Wilksen. Edition 52, 2006
– Briefe aus ferner Zeit. Text: G. Giandelli. Übersetzung: R. Rebiersch. Verlag Schreiber & Leser, 2005

Mehr über den Comicsalon gibt es demnächst auf den Tagesspiegel-Comicseiten zu lesen. Die Website des Festivals findet sich hier.

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