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© Illustration: Aus dem besprochenen Buch

Comicforschung: Revolutionär im Nachthemd

Die Erfindung des zerstreuten Blicks: Jens Balzer und Lambert Wiesing ergründen in einem akademischen Essayband die Ursprünge des Comics und erklären den besonderen Zauber der Kunstform.

Es passiert auf einer Wahlkampfkundgebung für einen US-Präsidentschaftskandidaten. Vor all den Banner-, Parolen- und Flaggenträgern, die auf dem gezeichneten Bild von der (fiktiven) Kundgebung zu sehen sind, steht ein kahlköpfiger Junge im gelben Nachthemd, das von Richard Feltin Outcault geschaffene „Yellow Kid“. Auf seinem Hemd lesen wir in nach Ghetto-Slang klingendem Pidgin-Englisch, was der kleine Kerl gerade sagt: „Aint I de Maine Guy in dis parade. Well I guess dats Right.“

Diese Szene aus dem Zeitungs-Strip „Hogan’s Alley“ erschien am 17. Mai 1896. Sie ist eine der ersten, wenn nicht gar die erste Szene einer neuen Ausdrucksform, deren einzelne Bestandteile für sich genommen schon lange existierten, die aber in dieser verschränkten, Text und Bild untrennbar verbindenden Form noch nicht eingeführt war. Es ist, so sehen es viele Fachleute, die Geburtsstunde des Comics. In „Hogan’s Alley“ sieht man erstmals eine frühe Form der Sprechblase, wenngleich es noch eine Zeit lang dauern sollte, bis sie - statt eines gelben Hemdes - einen freien Platz in der Bildkomposition bekommen sollte. In ihrem jetzt erschienenen Buch „Outcault. Die Erfindung des Comic“ ergründen der Kulturjournalist Jens Balzer und der Philosophieprofessor Lambert Wiesing die Ursprünge einer neuen Ausdrucksform.

Das aus einem gemeinsamen Hochschulsymposion zur Comic-Ästhetik hervorgegangene, umfangreiche Essay der Autoren versucht, ungeachtet aller auch von ihnen beiden geteilten Ambivalenz einer einheitlichen Definition des Mediums Comic jene Jahre zu beschreiben, in denen die wesentlichen Merkmale dessen sich herausbildeten, was wir heute gemeinhin als Comic verstehen.

Bild und Schrift finden eine neuartige Balance

Es ist ein nicht gänzlich neuer und dennoch faszinierender Ausflug in Kulturgeschichte und Bildtheorie. Aus den kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Besonderheiten in den Vereinigten Staaten um 1900 leiten Balzer und Wiesing ab, wieso es gerade zu dieser Zeit an diesem Ort dazu kam, dass die beiden eingeführten Ausdrucksformen Bild und Text sich zu einer neuen, in dieser Form völlig neuartigen Kunstform verbanden.

Sie führen besondere Rahmenbedingungen jener Zeit auf, von der zunehmenden Präsenz von Schriftsprache im Stadtbild über das dank technischer Neuerungen veränderte Erscheinungsbild der Zeitungen bis hin zur Feststellung, dass sich erst zu jener Zeit, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in der Öffentlichkeit ein Bildverständnis durchgesetzt hatte, das es einem breiten Publikum ermöglichte, eine visuelle Darstellungsform anzunehmen, in der sich die Schrift als gleichberechtigtes Bildelement behauptet und den Betrachter zu einem „zerstreuten Blick“ nötigt, der zwischen der virtuellen Realität des gezeigten Bildes und den durchaus realen Worten der Sprechblasen und anderer Textelemente in dem Ensemble eine Balance akzeptiert und die unterschiedlichen Bildelemente zu einer Einheit verbindet.

Reise zum Ursprung des unaufhörlichen Oszillierens

Überzeugend, wenngleich stellenweise für den interessierten Laien etwas sehr theoretisch und mit akademischen Fachbegriffen durchsetzt, führen die beiden Autoren vor, wie aus den ersten Versuchen Outcaults mit Text-Bild-Hybriden über ein paar Umwege sich dann tatsächlich die Sprechblase als das zentrale Merkmal jener dialektischen Ausdrucksform herauskristallisiert, die wir heute als Comic für selbstverständlich erachten. Dabei machen sie auf die faszinierende Überschneidung zweier Universen aufmerksam, aus deren Spannung sich ein Teil des Zaubers erklärt, den das Medium Comic bis heute hat: Über die Sprechblase hält die reale Welt der Worte Einzug in die gezeigte, gezeichnete Welt der Bilder. Durch die Sprechblase erwachen Figuren wie das „Yellow Kid“ zu einem neuen Leben.

Indem sie die Bedeutung dieses Schwebezustandes der untrennbaren Einheit von Wort und Bild betonen, grenzen Balzer und Wiesing sich ab von jenem Comic-Verständnis, das die Anfänge bei früheren Bild-Wort-Sequenzen sucht, seien es Höhlenbilder, Hieroglyphen oder mittelalterliche Bilderbögen. Dem muss man nicht uneingeschränkt zustimmen, eine anregende Lektüre ist dieses Büchlein trotzdem. Und eine spannende Reise in jene Zeit, in der das „unaufhörliche Oszillieren“ (Balzer) von Worten und Bildern eine feste Form annahm, die bis ins 21. Jahrhundert überdauert hat und seit jenen Jahren Ende des vorletzten Jahrhunderts nichts von ihrer Faszination verloren hat.

Jens Balzer und Lambert Wiesing: Outcault. Die Erfindung des Comic. Erschienen in der Reihe Yellow – Schriften zur Comicforschung im Verlag CH. A. Bachmann, 103 Seiten, 16 Euro.

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