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Von Briten bedrängt: Eine Szene aus „Louis Riel“.

© bahoe books

Comicbiografie „Louis Riel“: Kanadischer Freiheitskämpfer

Zwischen Fiktion und Geschichtsschreibung: Chester Brown erzählt im Comic „Louis Riel“ ein wichtiges Kapitel der Geschichte der indigenen Völker Kanadas.

Der Wiener Verlag Bahoe books bringt mit „Louis Riel“ (aus dem kanadischen Englisch von Alexander Lippmann, bahoe books, 280 S., 24 €) einen kanadischen Klassiker nach Deutschland, dessen Reise über den Ozean viel zu lang gedauert hat.

Erstmals 2003 vollständig erschienen, war dieser Comic Chester Browns erster großer Erfolg außerhalb der Independent-Szene. Nun ist die Geschichte, die dem kanadischen Freiheitskämpfer auf seinem Weg aus der politischen Bedeutungslosigkeit bis zu seinem Tod am Strang folgt, endlich auch hier verfügbar.

Als John MacDonald, der erste kanadische Premierminister, im März 1869 das von der Hudson Bay Company verwaltete Ruperts Land erwirbt, werden die dort ansässigen französischsprachigen Einwohner, die Métis, kurzerhand übergangen.

Die Nachfahren europäischer Pelzhändler und Frauen indianischer Abstammung fühlen sich als Opfer einer neuen Landvermessung und -zuteilung. Louis Riel, der Englisch und Französisch spricht, entwickelt sich zur charismatischen Galionsfigur einer wachsenden Widerstandsbewegung.

Riel wird zum Präsidenten einer provisorischen Regierung gewählt und bemüht sich um einen Interessensausgleich zwischen der anglo- und frankophonen Bevölkerung. Aber was wäre die sogenannte „Red River Rebellion“ für eine Revolution, ginge sie gewaltfrei vonstatten?

Eine Hinrichtung wird ihm später zum Verhängnis

Der Konterrevolutionär Thomas Scott gerät in Riels Gefangenschaft und erweist sich als lästiger Häftling. Seinen rassistischen Hasstiraden gewährt Brown sieben Seiten Platz, bis Riel ihn hinrichten lässt. Endlich, denkt man auch als Leser, endlich. Dies wird Riel später zum Verhängnis werden.

Eine weitere Szene aus „Louis Riel“.
Eine weitere Szene aus „Louis Riel“.

© bahoe books

Nach erfolglosen Verhandlungen über die Rechte der Métis flieht Riel ins amerikanische Exil, kehrt aber wenige Jahre später zurück. Der Heimkehrer ist nun überzeugt, ein von Gott auserwählter Erlöser zu sein. MacDonald lässt die Situation eskalieren, um politischen Gewinn daraus zu schlagen.

Das provozierte Waffenklirren ist seine Chance, den Wert des neuen Schienennetzes für den Eisenbahnverkehr zu demonstrieren: In Windeseile sind die Soldaten vor Ort und schlagen den Aufstand nieder.

Riel wird inhaftiert und nach einem ausführlich geschilderten Gerichtsprozess zum Tode verurteilt. Am 16. November 1885 wird er dem Henker übergeben, ein Vaterunser noch, dann stirbt Louis Riel am Strang.

Chester Brown zeichnet seine schlichten Figuren mit überdimensionierten Nasen, so den unredlichen MacDonald, oder gigantischen Händen wie etwa den zupackenden Riel, und auch mal mit gigantischem Mund, so das Großmaul Thomas Scott. Darüber hinaus bemüht Brown sich um große visuelle Zurückhaltung in Schwarzweiß: keine Experimente mit Perspektiven, kaum formale Spielereien und ein sehr strenges Layout von sechs Panels in je drei Zeilen.

Keinen strahlenden Helden habe er zeichnen wollen, so Chester Brown, und auch keinen Schurken. Mit Louis Riel hat Brown einen, mit Lessing gesprochen, gemischten Charakter geschaffen, dessen Ziele ehrenwert, dessen Methoden meist nachvollziehbar, dessen Geisteszustand zuletzt höchst fraglich erscheint. Eine Figur, die weder zur Bewunderung noch zur Nachahmung oder zur Abschreckung taugt. Zu Mitgefühl allerdings schon. Und Lessing wusste: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch“.

Vom Avantgardisten zum Historiographen

Die Publikationsbiografie Chester Browns begann in den 1980er Jahren mit alternativen Comics wie der wilden Serie „Ed the Happy Clown“ (seit 1983 in „Yummy Fur“), für die er wohlwollende Aufmerksamkeit über die Grenzen Kanadas hinaus erlangte. Nach dem vorzeitig abgebrochenen Erzählexperiment „Underwater“ (1994-97) verschrieb Brown sich mit „Louis Riel“ einem wesentlich konventionelleren Erzählen und wählte erstmals einen historischen Stoff.

Chester Brown vor einigen Jahren auf dem Toronto Comic Arts Festival.
Chester Brown vor einigen Jahren auf dem Toronto Comic Arts Festival.

© Lars von Törne

„Louis Riel“ erschien zuerst zwischen 1999 und 2003 in zehn Heften bei Drawn & Quarterly und wurde dann direkt als Gesamtausgabe publiziert. Zum Jubiläum 2013 erschien eine Neuausgabe mit den Covern der ursprünglichen Hefte, Skizzen und einem Essay von Sean Rogers. Nicht zuletzt verfügt die Neuausgabe so wie bereits das Original über einen umfangreichen Anmerkungsapparat.

Dies ist eine Eigenart von Brown, der seine Comics gern umfassend kommentiert. So enthält auch seine vieldiskutierte Freier-Autobiographie „Paying for it“ (2011, dt. 2012) einen umfassenden Anhang. In „Louis Riel“ nutzt er diesen, um seine ‚story‘ in der kanadischen ‚history‘ zu verankern.

Story und History

Die leidvolle Geschichte der indigenen Völker Kanadas ist auch von Joe Sacco und Jeff Lemire als Comic umgesetzt gesetzt worden. Lemires stummer Comic „Secret Path“ (2016) ist die Illustrierung eines Albums des kanadischen Musikers Gord Downie und beschäftigt sich mit der Biografie eines indigenen Schülers, der von seinen Eltern getrennt und an einer Residential School unterrichtet wurde, wie es bis 1996 praktiziert wurde.

Das Titelbild des besprochenen Buches.
Das Titelbild des besprochenen Buches.

© bahoe books

In seinem umfangreichen, 2020 auf deutsch veröffentlichten Reportagecomic „Wir gehören dem Land“ verleiht Sacco den Stummen eine Stimme und den Gesichtslosen ein Antlitz. Drei Dutzend seiner indigenen Interviewpartner*innen aus dem Volk der Dene kommen in seinem politischen Patchwork zu Wort und berichten durchaus widersprüchlich von ihren Erfahrungen.

Chester Brown balanciert in ganz eigenwilliger Weise zwischen freier Fiktion und akkurater Geschichtsschreibung. Während Joe Sacco seine Reportagen durch Augenzeugen und die Inszenierung von Interviewsituationen legitimiert, stellt Brown sich im 22-seitigen Anhang selbst in Frage: Einige Passagen nennt er „übertrieben“, er betont erzählerische „Ungenauigkeiten“ und beschreibt, wo er Ereignisse oder Personen aus künstlerischen Gründen verdichtet hat.

Er bemerkt auch, wo Widersprüche in seinen Quellen sich nicht auflösen lassen. „Louis Riel“ erschließt sich vollständig erst in seiner Kombination aus spannender Erzählung und kritischem Kommentar.

Dass der Verlag mit „Louis Riel“ einen guten Riecher bewiesen hat, zeigen die Preise, mit denen der Comic vor 18 Jahren bedacht wurde. Neben zwei Harvey Awards („Best Writer“, „Best Graphic Album of Previously Published Work“) wurde er für einen Eisner Award („Best Continuing Series“) nominiert. In Kürze wird mit „Dieses Land. 150 Jahre neu erzählt“ bei bahoe books ein weiterer Comic über kanadische Geschichte folgen. Ein historisches Trauerspiel, wie Lessing es sich kaum hätte ausdenken können.

Gerrit Lungershausen

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