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Skizzen eines Lebens: Eine Seite aus „Strannik“.

© Rotopol

Comic-Reportage: Der Kampf seines Lebens

In „Strannik“ erzählen Anna Rakhmanko und Mikkel Sommer vom russischen Käfigkämpfer Vyacheslav, der auf ein Leben voller geplatzter Träume zurückblickt.

Mixed-Martial-Arts-Kämpfe, die im Käfig ausgetragen werden, erfreuen sich auch in Deutschland immer größerer Beliebtheit. Die Fighter haben diverse Hintergründe, manche kommen vom Boxen, andere vom Kickboxen oder Judo, einige selbst vom Wrestling.

Die Top-Stars in Amerika, man denke nur an den skandalumwitterten Ex-UFC-Champion Conor McGregor, verdienen Millionen, weil sie an den Bestellzahlen der Pay-Per-View-Fernsehzuschauer beteiligt werden, und leben in Saus und Braus.

Von so einem Erfolg und solch einem Leben kann Vyacheslav, der mit Mitte 40 als obdachloser Käfigkämpfer in Moskau lebt, nur träumen. Er ist der Protagonist und Erzähler der Comic-Reportage „Strannik“ (Rotopol, 48 S., 14 €) von Autorin Anna Rakhmanko und Zeichner Mikkel Sommer.

Strannik, das bedeutet auf Russisch Pilger oder Wanderer, und das beschreibt Vyacheslav treffend. Ohne festen Wohnsitz wandert er durch Moskau, wo er bei Freunden und an anderen Orten Klamotten deponiert hat, und schläft in der Metropole, wo es eben gerade geht. Außerdem reist er manchmal tausend Kilometer weit, um etwa in einer abgelegenen, geschlossenen Militärstadt zu einem knallharten Käfigkampf anzutreten, für den er eigentlich zu alt ist.

Reportage mit Skizzenbuch-Charakter

Ende 2014 stolperte Anna Rakhmanko, die 1988 geboren wurde, in Sibirien aufwuchs und in Sankt Petersburg, Paris und Berlin zur Uni ging, online in den Sozialen Netzwerken über Vyacheslav. Sie kontaktierte ihn, reiste nach Russland und begleitete ihn ein paar Tage lang durch seinen Alltag, zu seinem nächsten Kampf in der Fremde und vor allem durch seine Erinnerungen an sein bisheriges Leben.

Die im Comic angerissenen Kämpfe, die Vyacheslav wegen seiner Lippenspalte und seines Sprachfehlers ausfechten musste, sind in „Strannik“ für das biografische Gesamtbild viel wichtiger als der anstehende nächste Fight im Käfig.

Eine weitere Szene aus „Strannik“.
Eine weitere Szene aus „Strannik“.

© Rotopol

Vyacheslav, der ursprünglich aus Kasachstan stammt, studierte einst Lichttechnik fürs Theater, las selbst Comics und wollte Künstler werden, doch immer wieder gingen Menschen falsch mit seinem Sprachfehler um und standen seinen Hoffnungen und Zielen im Weg. Nun gehört er zu den Millionen Obdachlosen in Moskau und wünscht sich, eines Tages genug Geld zu haben, um seiner Mutter ein Sofa kaufen zu können.

Die Zeichnungen der Comic-Reportage fertige der 1987 geborene Mikkel Sommer an. Der Däne, der mit Rakhmanko und der gemeinsamen Tochter in Berlin und Athen lebt und vor einigen Jahren unter anderem den starken Krimi „Burn Out“ bebilderte, verarbeitet die Aufzeichnungen und Fotos Rakhmankos in Bildern, die wie direkt aus dem Skizzenbuch wirken.

Die Blickwinkel und der verwackelte, unfertige Strich erwecken nicht nur den Eindruck, als wäre auch Sommer in Russland gewesen, sondern als wäre man als Leser ebenfalls unmittelbar dabei, wenn Vyacheslav durch seinen Alltag und seine Erinnerungen pilgert.

Das Titelbild des besprochenen Bandes.
Das Titelbild des besprochenen Bandes.

© Rotopol

Parallel wird das heutige Moskau innerhalb weniger großer, grober Panels portraitiert, der Zoo, die U-Bahn. Manchmal wirkt der Skizzencharakter etwas übertrieben und ist das eine oder andere Bild schwerer als nötig zu identifizieren, aber im Großen und Ganzen erzeugt der Zeichenstil auf gerade mal 48 Seiten eine bemerkenswerte Illusion von Nähe und Intimität, die dem Ansatz des Projekts bei aller Subjektivität sehr förderlich ist. Die reduzierten, prägnanten Texte untermauern den dokumentarischen und authentischen Charakter der Bildergeschichte.

Das Träumen nicht verlernt

Alles, was Rakhmanko und Sommer mit der Veröffentlichung von „Strannik“ verdienen, das im Kleinverlag Rotopol Press herauskam, soll laut Nachwort Vyacheslav zugute kommen und sein Leben zumindest ein bisschen erleichtern.

Der Comic geht mit einer melancholischen Note und dem Beginn des nächsten Kampfes für Vyacheslav zu Ende, der gerade in den Käfig steigt, worum sich die Story nie vordergründig dreht. Dennoch gäbe es noch mehr zu erzählen.

In einem Interview berichtete Rakhmanko schließlich, dass Vyacheslav, der das Träumen trotz aller Rückschläge und ungeachtet seiner Obdachlosigkeit keineswegs verlernt hat, sich zuletzt sogar den Wunsch erfüllte, auf einer kleinen Bühne in Moskau in einem Theaterstück mitzuspielen. Am Ende ist wohl jeder ein Stück weit selbst dafür verantwortlich, inwieweit er sich von seinem persönlichen Käfig einsperren lässt oder weiterkämpft.

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