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Bedrohte Idylle: Eine Seite aus dem Buch.

© Reprodukt

Comic-Märchen: Ein Fest der Fantasie

„Hilda und der Mitternachtsriese“ ist eine der schönsten Bilderzählungen des Jahres - und nicht nur für Kinder lesenswert. Am Donnerstag kann man Autor Luke Pearson live auf dem Comicfestival München erleben.

Auf subtile Weise unterwandern immer wieder Grenzen sprengende Ausnahmewerke die traditionell sauber getrennten Sparten des Buchmarkts. Man denke nur an Shaun Tan („Die Fundsache“, „Ein neues Land“), dessen Bücher man irgendwo zwischen Bilderbuch und Comic verorten kann, die im Grunde aber ihr eigenes Genre bilden.

Ähnlich verhält es sich mit Luke Pearsons „Hilda und der Mitternachtsriese“. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, ist „Hilda“ Teil der neuen Kindercomicreihe des Reprodukt Verlags. Es bei dem Label „für Kinder“ zu belassen, wäre aber, auch wenn es positiv gemeint ist, unzureichend. Dieser Comic ist künstlerisch herausragend, da er von einer wilden erzählerischen Phantasie getragen wird und diese mit feiner, zeitgemäßer Grafik visualisiert. Aufgrund der anspielungsreichen Handlung und des subtilen Humors kommen auch Erwachsene bei „Hilda und der Mitternachtsriese“ bestens auf ihre Kosten.

Das Album wird von einem ruhigen, unaufgeregten Erzählrhythmus getragen und ist charmant-minimalistisch gezeichnet, unterstützt durch eine stimmungsvolle Farbgebung. Einige größere Panels markieren Höhepunkte oder Überraschungen innerhalb der Erzählung und sind dabei so liebevoll und detailreich ausgestaltet, dass sie zum Träumen einladen. Doch entwickelt sich durch die abwechslungsreiche Geschichte und einige Action-Momente auch Spannung. Die dynamisch gezeichnete Hauptfigur erinnert mit ihrem runden Kopf und den dünnen beweglichen Gliedern an klassische animated cartoons, wie auch an manche Charaktere des japanischen Animationsfilmers Hayao Miyazaki (beides erkärte Vorbilder Pearsons, neben den Mumins von Tove Jansson).

Hilda hat blaue Haare und große Augen und geht durchaus als Mädchen von heute durch, das zusammen mit ihrer (als Architektin arbeitenden) Mutter ein einsames Haus in einem Tal bewohnt, das von spitzen Bergen umzingelt ist. Superkräfte oder sonstige besondere Eigenschaften besitzt sie nicht. Eher einen Trotzkopf – wenn sie etwas will, ist sie bereit, dafür zu kämpfen. Sie informiert sich in Büchern über das Wesen von Trollen oder Riesen. Und das Meckern und Protestieren liegt ihr auch.

So weit, so alltäglich. Doch das Umfeld des Hauses ist märchenhaft – es gibt schräge Wesen wie den „Holzmann“ oder die am Himmel fliegenden, wolkenähnlichen Woffel, sowie ein niedliches Haustier der Gattung „Fuchshörnchen“. All diese Fantasiewesen gehören bereits zu Hildas Alltag, andere tauchen das erste Mal auf und erscheinen zunächst fremd und unheimlich. Das Unheimliche ist jedoch nur vordergründig, es stellt vielmehr ein Geheimnis dar, das im Laufe der Geschichte aufgedeckt wird, „erhellt“.

Elflinge und Riesen: Eine Seite aus dem Buch.
Elflinge und Riesen: Eine Seite aus dem Buch.

© Reprodukt

Zum Inhalt: Hilda wird mit einem angriffslustigen Nachbarvolk, den unsichtbaren, winzig kleinen „Elflingen“ konfrontiert, die Hilda und ihre Mutter aus dem Tal vertreiben wollen. Mit Alfur, ihrem Verbündeten dieses Volkes im Ohr, versucht Hilda, die Elflinge davon zu überzeugen, dass sie doch weiterhin friedlich in Nachbarschaft leben könnten… und stößt auf unerwartete bürokratische Hürden, muss Anträge unterschreiben und sich auf die Socken machen, den Verantwortlichen ausfindig machen. Hilda gibt so schnell nicht auf. Innerhalb der Handlung ist ein weiterer Erzählstrang um einen geheimnisvollen Riesen verwoben, der auf einen eigenen Mythos verweist und damit Hildas Kosmos auf wundersame Weise erweitert.

So entfaltet die Geschichte nebenbei auch philosophische und vor allem satirische Qualitäten, die an Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“ oder manche von E.T.A. Hoffmanns grotesken Erzählungen erinnern. Diese phantastischen Werke waren zu ihrer Zeit auf einer zweiten Ebene bissige, verfremdete Spiegelungen der herrschenden Verhältnisse, und so können auch Hildas Erfahrungen mit den Elflingen als Parabel für aktuelle Konflikte oder Absurditäten der Gesellschaft gelesen werden (Zum Beispiel kann keiner der zuständigen Elflinge so recht begründen, weshalb der „Krieg“ gegen Hilda und ihre Mutter überhaupt begonnen wurde).

„Hilda“ ist intelligente Unterhaltung, die nicht nur die kleinen Leser zum „Nochmal-Lesen!“ animiert. Ihre Fabel ist spielerisch-versponnen und stellt ein erfrischendes Gegenkonzept zu klischeehaften Mainstream-Serien wie auch zur dokumentarischen Erzählweise vieler Graphic Novels dar.

Generationsübergreifend: Das Cover des besprochenen Buches.
Generationsübergreifend: Das Cover des besprochenen Buches.

© Reprodukt

Dem jungen englischen Autor und Zeichner Luke Pearson gelingt es, von der ersten bis zur letzten Seite einen glaubwürdigen, eigenen Kosmos zu erschaffen, der viel Raum für (weitere) Geschichten bietet. Darüber hinaus zeigt er auch, wie phantastisches grafisches Erzählen heute aussehen kann. Seine Comics sind in England und Frankreich für einen „Shooting-Star“, der erst seit 2010 veröffentlicht, bereits immens erfolgreich – was Anlass zur Hoffnung gibt, dass sich Qualität durchsetzt. Deutsche Leser können auf weitere Bände um Hilda gespannt sein (im Original gibt es eine erste, kürzere Geschichte namens „Hildafolk“, der „Mitternachtsriese“ ist die erste albenlange, sowie das neueste Album „Hilda and the Bird Parade“) und Pearsons erste Graphic Novel „Everything we miss“, die allesamt voraussichtlich bei Reprodukt erscheinen werden.

Luke Pearson: Hilda und der Mitternachtsriese. Aus dem Englischen von Matthias Wieland, Handlettering von Michael Hau, 44 Seiten, 18 Euro.

Veranstaltungshinweis: Am 30. Mai spricht Luke Pearson auf dem Comicfestival München mit Tagesspiegel-Redakteur Lars von Törne über „Hilda“ und seine anderen Arbeiten (Künstlerhaus, 17.30 Uhr), mehr dazu unter diesem Link. Das komplette Programm des Comicfestivals München, das von Mittwoch bis Sonntag stattfindet, finden Sie unter diesem Link: www. comicfestival-muenchen.de. Danach sind weitere Stationen geplant, unter anderem in Berlin - mehr dazu demnächst auf den Tagesspiegel-Comicseiten.

Unser Autor Ralph Trommer ist Dipl.-Animator, Autor von Fachartikeln über Comics, Prosatexten und Drehbüchern. Weiter Tagesspiegel-Artikel von ihm unter diesem Link.

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