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Ausgehungert: Das Marsupilami in einer Szene aus „Die Bestie“.

© Carlsen

Comic-Klassiker: Wilder Besuch aus Palumbien

Zwei neue Comics mit Spirou und dem Marsupilami zeigen, wie sich europäische Klassiker der Kunstform modernisieren lassen.

Das riesige, ehrwürdige französische Luxushotel „Pacific Palace“ wird für einen einzigen staatstragenden Gast reserviert, der Zuflucht vor der Verfolgung in seinem Heimatland sucht: Iliex Korda war jahrelang Präsident und „Großer Führer“ der „Demokratischen Republik Karajan“.

Aus der Zeit gefallen: Eine Seite aus „Pacific Palace“.
Aus der Zeit gefallen: Eine Seite aus „Pacific Palace“.

© Carlsen

Mit ihm gekommen sind seine Familie und eine Garde Leibwächter. Im Hotel sind die Sicherheitsmaßnahmen groß: Neben dem Direktor Herrn Paul ist nur ausgesuchtes Personal vor Ort. Darunter die Hotelpagen Spirou und Fantasio...

Der Zeichner Christian Durieux hat das beliebte belgische Comicheldenduo für den jüngst erschienenen Einzelband „Pacific Palace“ (Carlsen, 80 S., 13 €) in ein ungewöhnliches Dekor versetzt – ein abgelegenes, wie aus der Zeit gefallenes Hotel.

Mit der Konzentration auf einen Schauplatz verlässt der Band das übliche Schema der „turbulenten Abenteuer in aller Welt“, dem die klassischen Spirou-Comics seit den ersten Strips von 1938 verpflichtet sind.

Seit einigen Jahren dürfen ausgewählte Künstler innerhalb der „Spirou und Fantasio Spezial“-Reihe eigene Comics um den Pagen mit der roten Haartolle in ihrem persönlichen Stil zeichnen, um auch inhaltlich neue Wege zu beschreiten. Dabei versetzen sie (wie der Franzose Émile Bravo oder der deutsche Zeichner Flix) Spirou gerne in historisch spannende Kontexte.

Wie Alfred Hitchcock in seinen besten Filmen

In Christian Durieux´ subtil angelegtem Kammerspiel fungieren die Hauptfiguren weniger als Handlungsträger denn als Beobachter, ja „Zeitzeugen“ eines raffinierten Polit-Dramas. Durieux zeichnet Spirou dabei als zurückhaltenden Jüngling – im Gegensatz zu seiner klassischen Rolle als smarter, weltläufiger Draufgänger. Sein tollpatschiger Sidekick Fantasio ist dagegen ein übellauniger Möchtegern-Journalist – der nun seine Chance für die ganz große Enthüllungsstory wittert.

Subtiles Kammerspiel: Eine Szene aus „Pacific Palace“.
Subtiles Kammerspiel: Eine Szene aus „Pacific Palace“.

© Carlsen

Der 1965 geborene belgische Zeichner überzeugt mit einem ausgefeilten Szenario, das im Kern eine zeitlose Satire auf den fragwürdigen Umgang eines demokratischen Staats mit Diktatoren erzählt, und verquickt dabei gekonnt - wie Alfred Hitchcock in seinen besten Filmen - Suspense- mit Komödienelementen.

Ein Kabinettstückchen für sich ist die Sequenz, in der Kordas Karriere im Rückblick pointiert dargestellt wird: Dessen Eliminierung von Parteigenossen erinnert an stalinistische Praktiken wie auch an andere Diktaturen in Osteuropa. Nebenbei verzaubert Durieux mit einer atmosphärisch dichten Liebesgeschichte um Spirou und Kordas hübsche Tochter Elena.

Das Titelbild von „Pacific Palace“.
Das Titelbild von „Pacific Palace“.

© Carlsen

Sein feiner und eleganter Zeichenstil brilliert in der Ausgestaltung des Jugendstilhotels wie auch in der karikierenden Darstellung prägnanter Charaktere wie Korda oder dem distinguierten, an Charles de Gaulle erinnernden Herrn Paul, der ein Geheimnis verbirgt. Eine Nebenrolle hat die aus vielen Spirou-Abenteuern bekannte Freundin der beiden Helden Stephanie als engagierte Reporterin.

Huba-huba!

Während Spirou in letzter Zeit gleich mehrfach Neuinterpretationen erfuhr, hat das aus dem gleichen Comic-Kosmos stammende Marsupilami – das Klettertier aus dem palumbischen Urwald mit seinem Lasso-langen Schwanz als Allzweckwaffe - bislang kaum Veränderungen erfahren.

André Franquin (1924-97), bis heute der prägende Spirou-Zeichner, erfand es 1952 für das Album „Eine aufregende Erbschaft“, in dem Spirou und Fantasio nach Palumbien reisten. Fortan war das lustig-anarchische Fabeltier (sein typischer Ausruf: „Huba-huba!“) ein treuer Gefährte der Helden.

Seine bis heute ungebrochene Popularität führte zu einer eigenen Albenreihe und Zeichentrickserien bis hin zu einer Spielfilmkomödie von 2012. Nach langer Abwesenheit tauchte es erstmals 2016 wieder in einem regulären Spirou-Abenteuer („Der Zorn des Marsupilamis“ von Yoann und Fehlmann) auf.

Eigenwillig: Eine Szene aus „Die Bestie“.
Eigenwillig: Eine Szene aus „Die Bestie“.

© Carlsen

Nun wagen der 1956 geborene belgische Zeichner Frank Pé und der Szenarist Zidrou mit dem Zweiteiler „Die Bestie“ (Carlsen, Band 1: 156 S., 25 €) eine Neuinterpretation, die wenig mit dem niedlichen Image von Franquins Schöpfung zu tun hat.

Der 1956 geborene Künstler Frank Pé ist 1978 durch die Serie „Jonas Valentin“ bekannt geworden, und zeichnete u.a. das Spirou Spezial-Abenteuer „Das Licht von Borneo“ (2016) und eine Hommage an Winsor McCays „Little Nemo“ (2020 bei Carlsen), in der ein elementarer Teil des Marsupilamis einen Cameo-Auftritt hatte.

Sein Meisterwerk ist der Dreiteiler „Zoo“ (1994-2007), die Geschichte eines Zoos in der Normandie vor und während des Ersten Weltkrieges, die bereits seine Liebe zu detaillierten Tierdarstellungen verriet. Für „Die Bestie“ hat er (nach dem Spirou Spezial-Band „Das Licht von Borneo“) erneut mit dem Szenaristen Zidrou (Benoît Drousie) zusammengearbeitet.

Entstanden ist ein erstaunlich düsteres Abenteuer in einem schroffen Strich, der gut zur dargestellten Epoche passt: der Nachkriegszeit in Belgien. In ärmlichen Verhältnissen wächst der kleine François bei seiner alleinerziehenden Mutter Jeanne auf.

Milieuschilderungen wie bei Charles Dickens

Der in der Schule als Sprössling eines deutschen Soldaten gehänselte Junge fühlt sich Tieren näher als Menschen und hat bereits einen ganzen Zoo verschiedenster Arten zuhause angesammelt, die er vor Hunger und Krankheiten rettete und nun durchfüttern muss. Nachdem ein seltsames Wildtier von Bord eines Frachters im Hafen verschwand, findet François es, um es aufzupäppeln...

Das Titelbild von „Die Bestie“.
Das Titelbild von „Die Bestie“.

© Carlsen

Frank Pé und Zidrou warten mit gelungenen, derb humorvollen Milieuschilderungen auf, die an Charles Dickens „Oliver Twist“ oder den Filmklassiker „Der Krieg der Knöpfe“ erinnern.

Pés Seitenaufteilungen sind großzügig angelegt und variieren oft, mit dichten Schraffuren und matten Farbtönen zwischen Grau und Dunkelgelb kreiert er eine dichte Atmosphäre. Aus dem Marsupilami macht der passionierte Tierzeichner ein nahezu realistisches Wildtier, das eher aggressiv und bedrohlich als knuddelig wirkt, dabei jedoch den von Franquin gesetzten eigenwilligen Charakter bewahrt.

Man kann gespannt sein, welche weiteren Wendungen die Fortsetzung, die Ende 2022 erscheint, für François´ Schicksal und die sogenannte „Bestie“ bereithält.

Diese Fortschreibungen belgischer Comicklassiker verändern zwar Erzählton und Zeichenstil der Originale, aber nie den Grundcharakter der beliebten Figuren.

In solch inspirierten Beispielen wie den aktuellen sorgen sie für frische Perspektiven und überzeugen durch vielschichtige und zeitgemäßere Storys, als sie in den für Kinder konzipierten klassischen Reihen wohl möglich wären.

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