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Comic-Klassiker: Ein ganz normaler Held

Vor 80 Jahren reisten Tim und Struppi zum ersten Mal in die Welt – es folgten 24 weitere Abenteuer

Alles begann mit einer Entdeckungsreise in die trostlose Sowjetunion, gezeichnet in Schwarz-Weiß. An diesem Sonnabend vor 80 Jahren werden ein junger Reporter und ein weißer Foxterrier erstmals von einer Traube Fotografen und einem Chefredakteur auf dem Brüsseler Bahnhof verabschiedet, um in ferne Länder aufzubrechen. Das war der Auftakt für eine Serie von zwei Dutzend Abenteuern, die bis heute Menschen jeden Alters begeistert.

Am 10. Januar 1929 erschien die erste Folge von Tim und Struppi in „Le Petit Vingtième“, einer Kinderbeilage der belgischen Zeitung „Vingtième Siècle“. Deren Schöpfer Hergé, der mit bürgerlichem Namen Georges Remi hieß, ist in Belgien bis heute ein Held. Seine Tim-und-Struppi- Abenteuer (im Original Tintin) wurden weltweit rund 200 Millionen Mal verkauft und in mehr als 55 Sprachen übersetzt. Damit gehört Hergé zu den erfolgreichsten Comiczeichnern der Welt.

Die Haartolle entstand bei einer Verfolgungsjagd

Die Entwicklung von Hergé (1907– 1983) entsprach der vieler berühmter Comic-Autoren: Bereits während seiner Schulzeit zeichnete er Titelbilder und Illustrationen für Pfadfindermagazine, Bücher, Zeitschriften, Kalender und Postkarten. 1925 begann Hergé als Büroangestellter bei der römisch-katholischen Tageszeitung „Le Vingtième Siècle“. 1928 wurde ihm die Position des Chefredakteurs von „Le Petit Vingtième“ übertragen, für das er 1929 die Figuren Tim und Struppi kreierte.

In der ersten Geschichte reiste Tim als Reporter von „Le Petit Vingtième“ in die Sowjetunion. Schon zu Beginn der Handlung erhielt Tim, als Folge einer rasanten Flucht mit einem Auto, sein Markenzeichen: die typische Haartolle. Die Story war gleich so erfolgreich, dass sich die Auflage der Donnerstagausgabe von „Vingtième Siècle“, wenn „Le Petit Vingtième“ beilag, versechsfachte. Der Vorabdruck der Geschichten blieb bei „Le Petit Vingtième“. Ab 1934 gab der belgische Casterman-Verlag die Albenausgaben der Abenteuer von Tim und Struppi heraus.

Bei den ersten Abenteuern von Tim und Struppi verließ sich Hergé noch auf sehr begrenztes Dokumentationsmaterial. Während der Vorbereitung für das fünfte Abenteuer „Der Blaue Lotus“ lernte der Autor und Zeichner 1934 den jungen chinesischen Kunststudenten Tschang Tschong-Jen (1907–1998) kennen. Es entwickelte sich eine Freundschaft, die auch für Hergés Arbeitsstil einen Wendepunkt bedeutete. Von Natur aus Perfektionist, nahm sich Hergé für jede seiner Erzählungen von nun an viel Zeit für das Szenario, Zeichnungen und die Dokumentationen. Mit großer Akribie wurden die Tim-und-Struppi-Geschichten im Laufe der Jahre immer wieder überarbeitet und aktualisiert.

Das letzte Abenteuer blieb unvollendet

Von Mitte bis Ende der 1930er Jahre entwickelte Hergé, aus dessen Feder auch der Pfadfinder Totor, die Abenteuer der Brüsseler Lausbuben Stups und Steppke und das Trio Jo, Jette und Jocko stammen, einen einfachen und schnörkellosen Zeichenstil, der Schule machte und als „Ligne Claire“ bekannt wurde. Insgesamt schrieb und zeichnete Hergé in seiner langen Karriere 25 Tim-und-Struppi-Abenteuer. Sein letztes „Tim und die Alpha- Kunst“ blieb unvollendet.

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Klare Linien, einzigartige Ästhetik. Detail des Titelbildes zu "Der Blaue Lotos".

© Alle Illustrationen: Hergé/Promo

Der Erfolg der Serie führte schon relativ früh zu Kinofassungen. Die ersten Versuche waren nach dem Kriegsende Diafilme und ein Puppenfilm. Zwei Formen von Adaptionen sollten sich später durchsetzten: Realverfilmungen und Zeichentrickanimationen. Zunächst wurden 1956 zwei halbstündige Zeichentrickfilme und dann ab 1959 sieben fünfminütige Zeichentrickfilme für das Fernsehen produziert. 1960 kam mit „Tim und das Geheimnis um das Goldene Vlies“ der erste Realfilm ins Kino, dem 1964 „Tim und die blauen Orangen“ folgte. 1969 und 1973 produzierten die Brüsseler Belvision-Studios zwei Kino-Zeichentrickfilme (Der Sonnentempel & Tim und der Haifischsee). Die in den 1990er Jahren für das Fernsehen entstandenen 21 Zeichentrickfilme der kanadischen Produktionsfirma Ellipse sind die bisher gelungensten Trickfilmanimationen. Jüngst gab es mehrfach Versuche, Tims und Struppis Abenteuer in einem Hollywoodfilm zu verarbeiten. Die lang angekündigte Verfilmung durch Steven Spielberg soll offenbar demnächst begonnen werden. 

Er war auf dem Mond, lange bevor die Nasa ihre erste Mission startete

Eigentlich ist Tim ein Abenteurer. Als Reporter wird er kaum tätig. Jeder kennt ihn und alle Gangster der Welt fürchten ihn. Es gibt keinen Fall, den er nicht zu lösen weiß. Und als Held vieler berühmter Abenteuer reist er in den Kongo, nach Amerika, Ägypten, China und Großbritannien.

Weitere Reiseziele sind Arabien, Peru, Tibet und Australien. Sogar auf den Mond reist Tim, lange bevor die Nasa ihre erste Mondmission startete. Doch was fasziniert an Tim? Wohl seine Normalität: Tim ist ein recht farbloser Held mit Haartolle und Kniebundhose. Er besitzt keine Superheldeneigenschaften. Doch er verkörpert Werte wie Freundschaft, Hilfsbereitschaft, Gerechtigkeit und Mut.

Hergé hat mit den Geschichten um Tim und Struppi ein zeitloses Universum geschaffen, das den Wandel der Zeit überdauert hat. Der Autor schuf eine Vielzahl beliebter Figuren, allen voran Kapitän Haddock. Der herrlich fluchende und trinkfreudige Seebär entwickelte sich im Verlauf der Serie zu einem echten Sympathieträger. Weitere wichtige Charaktere sind der schwerhörige Erfinder Professor Bienlein, die Detektive Schulze und Schultze, Obergauner Rastapopoulos und die unvergessliche, aber nicht unumstrittene Operndiva Bianca Castafiore.

Weitere Tagesspiegel-Artikel über Tim und Struppi:
Der erste Mann auf dem Mond
Zwei Belgier in Berlin

Die Bücher sind auf Deutsch im Carlsen-Verlag erschienen.

Michael Hüster

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