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Goldiges Jubiläum: Zum zehnten Mal kürt der Tagesspiegel jetzt die besten Comics des Jahres.

© Tsp

Comic-Bestenliste: Die besten Comics 2021 – Lars von Törnes Favoriten

Welches sind die besten Comics des Jahres? Das fragen wir unsere Leser:innen und eine Fachjury. Heute: Die Top-5 von Tagesspiegel-Redakteur Lars von Törne.

Auch in diesem Jahr fragen wir unsere Leserinnen und Leser wieder, welches für sie die besten Comics der vergangenen zwölf Monate waren - hier eine aktualisierte Auswahl der Ergebnisse. Unter allen Einsendenden werden wertvolle Buchpakete verlost.

Parallel dazu ist wie bereits in den vergangenen Jahren wieder eine Fachjury gefragt. Die besteht in diesem Jahr erneut aus acht Autorinnen und Autoren der Tagesspiegel-Comicseiten: Barbara Buchholz, Christian Endres, Moritz Honert, Lara Keilbart, Rilana Kubassa, Sabine Scholz, Ralph Trommer, Lars von Törne.

Lars von Törne.
Lars von Törne.

© Stefan Weger/Tagesspiegel

Die Mitglieder der Jury küren in einem ersten Durchgang ihre fünf persönlichen Top-Comics des Jahres, die in den vergangenen zwölf Monaten auf Deutsch erschienen sind. Jeder individuelle Favorit wird von den Jurymitgliedern mit Punkten von 5 (Favorit) bis 1 (fünftbester Comic) beurteilt.

Daraus ergibt sich dann die Shortlist, auf der alle Titel mit mindestens fünf Punkten oder mindestens zwei Nennungen landen. Diese Shortlist wird abschließend von allen acht Jurymitgliedern erneut mit Punkten bewertet - daraus ergab sich die Rangfolge der besten Comics des Jahres, die am 23. Dezember im Tagesspiegel veröffentlicht wird.

Die Favoriten von Tagesspiegel-Redakteur Lars von Törne

Platz 5: Anke Feuchtenberger: „Der Spalt“

Immer wieder Schornsteinfeger: Eine Seite aus „Der Spalt“.
Immer wieder Schornsteinfeger: Eine Seite aus „Der Spalt“.

© Canicola

Anke Feuchtenbergers Bilderzählung „Der Spalt“ ist eine mit Kohlezeichnungen illustrierte Meditation über das Leben und seine Herausforderungen. Bis hin zu jenen, die das Coronavirus mit sich bringt. In Form eines gezeichneten Briefes an ihre Enkelin lädt die Künstlerin zu einer assoziativen Gedankenreise ein, in der sie Bilder und Texte zu einem poetischen Kunstwerk verknüpft. Das wirkt zutiefst persönlich und ist doch so allgemeingültig gehalten, dass die Lektüre viele Anknüpfungspunkte bietet.

Vor allem aber ist dieses grafische Essay im opulenten Din-A3-Format ein visuelles Erlebnis. Feuchtenbergers Zeichnungen sind dominiert vom satten Schwarz des Grafits, Figuren und Orte oft kaum mehr als Schatten. Doch immer wieder durchbrechen Wisch- und Kratzspuren die Dunkelheit, gelegentlich kommen weiße Kreidespuren hinzu. Der fließende Strich vor allem bei der Figurenzeichnung vermittelt etwas fast Zärtliches. Bedrohliches und Beruhigendes liegen hier dicht beieinander.

Platz 4: Taiyo Matsumoto: „Gogo Monster“

Die Geister, die er rief: Eine Szene aus „GoGo Monster“.
Die Geister, die er rief: Eine Szene aus „GoGo Monster“.

© Reprodukt

Heranwachsende, die in schwierigen Lebenslagen Trost in Tagträumen finden – das ist eines der zentralen Themen im Werk des japanische Manga-Autors Taiyō Matsumoto, dessen nach wie vor laufende Serie „Sunny“ im vergangenen Jahr einer meiner Favoriten war. „GoGo Monster“, eine in einem Band abgeschlossenen Erzählung, handelt erneut von imaginären Welten und fragilen Freundschaften.

Hauptfigur ist der Zweitklässler Yuki Tachibana, ein Einzelgänger, der offenbar Kontakt zu Monstern aus einer anderen Welt hat, die für ihn so etwas wie Freunde sind, aber auch hinter einigen merkwürdigen und bedrohlichen Vorfällen stecken. Wichtiger als der eigentliche Plot ist hier allerdings die Atmosphäre, die Matsumoto mit skizzenhaft wirkenden Bildern vermittelt.

Enge Bildausschnitte in vertikalen Panels führen in „GoGo Monster“ ganz nah an die Figuren heran und zeigen oft nur Teile von Gesichtern. In anderen Szenen weitet sich der Bildausschnitt dramatisch und lässt die Figuren in horizontalen Panorama-Panels verloren im Raum stehen. Und in Szenen, in denen das Mysteriöse überwiegt, sind seine Bilder schwarze Schraffuren, die vieles nur noch schemenhaft andeuten.

Wobei nicht immer klar ist, welche der im Verlauf der Handlung zunehmend unheimlichen Vorkommnisse nur in der Welt von Yuki stattfinden und welche auch für andere Menschen sichtbar sind. Das verleiht der Geschichte eine latent surrealistische Stimmung. Die erinnert an die von Geistern bevölkerte Welt von Manga- und Anime-Altmeister Hayao Miyazaki.

Platz 3: Max Baitinger: „Sibylla“

Das Titelbild von „Sibylla“.
Das Titelbild von „Sibylla“.

© Reprodukt

Auf den ersten Blick sieht es wie eine Künstlerinnenbiografie aus. Aber „Sibylla“ ist weniger ein Buch über die Barockdichterin Sybilla Schwarz als vielmehr eine kunstvolle Auseinandersetzung damit, wie sich etwas über einen Menschen vermitteln lässt, der vor 400 Jahren zur Welt kam und von dessen nur knapp 18 Jahre währendem Leben kaum etwas überliefert ist.

Max Baitinger lässt sein Publikum an der Entstehung dieses Buches teilhaben, das somit zu einer selbstreflexiven Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Schaffensprozess und der Erinnerungskultur weit über die Einzelbiografie hinaus wird. Das ist klug strukturiert, mit viel Selbstironie erzählt und zeichnerisch herausragend zu Papier gebracht.

Handwerklich hat der Leipziger Künstler sein Spektrum beeindruckend erweitert, den lange für ihn typischen geometrisch-technischen Schwarz-Weiß-Stil ergänzen jetzt zahlreiche Aquarellbilder. Das verleiht seiner Erzählung nicht nur Farbe, sondern auch etwas Wildes, Unkontrollierbares, das in diesem Fall perfekt zum Grauen des Dreißigjährigen Krieges passt, der das Leben von Sybilla Schwarz in den letzten Jahren ihres kurzen Lebens zunehmend prägt.

Baitinger kombiniert konkrete, realistisch wirkende Bildfolgen über den möglichen Alltag seiner Hauptfigur mit surrealistischen Szenen voll absurden Humors. Er experimentiert mit der Seitenarchitektur, arbeitet mit visuellen Andeutungen und Freiflächen und hinterfragt kontinuierlich, welche Art von Realität sein Werk eigentlich vermittelt. Das gilt auch für Schwarz‘ Gedichte, von denen Baitinger einige illustriert hat und in denen es mal um den Traum vom Glück oder das ewige Leben geht, zum Ende hin dann aber auch um monströse Alpträume und Todeswünsche.

Platz 2: Steven Appleby: „Dragman“

Unkonventioneller Held: Eine Szene aus „Dragman“.
Unkonventioneller Held: Eine Szene aus „Dragman“.

© Schaltzeit

Emanzipationsdrama und Superhelden-Hommage, Science-Fiction-Thriller, Gesellschaftssatire und Drag-Comedy: Steven Applebys „Dragman“ hat von all dem etwas. Vor allem aber ist es die Biografie einer tollen Persönlichkeit, die zwar fiktiv ist, aber dem Autor in vielerlei Hinsicht ähnelt.

Mit skizzenhaftem, vibrierendem Strich erzählt der britische Comiczeichner die Geschichte von August Crimp, Familienvater und leidenschaftlicher, wenngleich heimlicher Träger von Frauenkleidern, die ihm Superkräfte verleihen. Das daraus resultierende Doppelleben stellt ihn ständig vor neue Herausforderungen. Crimp lebt in einer Zukunftswelt des ungezügelten Kapitalismus, in der Menschen ihre Seelen verkaufen und zudem eine Mordserie an trans Menschen sein Umfeld erschüttert.

Zusammen mit einer Truppe herrlich spleeniger Weggefährten begibt sich der Held wider Willen auf die Suche nach dem Mörder und macht nebenbei die Welt zu einem besseren Ort. Das ist humorvoll erzählt, spannend und mit einem guten Auge für Details. Die Aquarellkolorierung gibt seinen Bildern zusätzlich Tiefe und Wärme. Und Appleby gelingt das Kunststück, auch quälende Momente eines queeren Lebens in der heteronormativen Welt so charmant und witzig zu vermitteln, dass es eine Freude ist.

Platz 1: Anna Haifisch: „Residenz Fahrenbühl“

Meta-Mäuse: Eine Szene aus „Residenz Fahrenbühl“.
Meta-Mäuse: Eine Szene aus „Residenz Fahrenbühl“.

© Illustration: Anna Haifisch

Stehen zwei Mäuse an einer Weide und betrachten die Kühe. Sagt die eine Maus: „Ich wünschte, Tiere könnten sprechen.“ So selbstreflexiv, ironisch und spielerisch wie in meiner Lieblingsszene aus Anna Haifischs „Residenz Fahrenbühl“ geht es in dem Buch oft zu.

Mit kritzeligem Skizzenstrich erzählt die Leipziger Zeichnerin darin von zwei Maus-Künstlern, die sich in einer abgeschiedenen Künstlerresidenz wiederfinden und plötzlich auf sich selbst zurückgeworfen sind – für die eine Maus ein Genuss, für die andere eine Qual. Das perfekte Buch zum Corona-Ausnahmezustand und seinen unterschiedlichen Wahrnehmungen.

Auch wenn die Bilder wie spontan hingeworfen aussehen und etwas von einem unvollendeten Entwurf vermitteln, sitzt doch jeder Strich und jedes Wort. Es gibt tolle Winterszenen, bei denen die widerstreitenden Gefühle der beiden Protagonisten bei einem Tanz übers Eis oder dem Betrachten von Schneeflocken zum Ausdruck kommen.

Die Körpersprache der Figuren ist so einfach wie ausdrucksstark. In den Gesprächen der Mäuse geht es um Einsamkeit und Freundschaft, den Sinn der Kunst und die Frage, wie viel Isolation das Individuum aushält. Dabei zieht sich ein feiner, melancholischer Humor durch „Residenz Fahrenbühl“, der mich auch bei der zweiten und dritten Lektüre immer wieder zum Lachen und Mitfühlen gebracht hat.

Das verknüpft Anna Haifisch mit Ansätzen eines Thriller-Plots, der entfernt an „The Shining“ erinnert, auch wenn hier kein Blut fließt. Und dass manche Szenen an Spiegelmans „Maus“ oder an Disneys anthropomorphe Schöpfungen denken lassen, liegt bei einem Maus-Comic ja quasi auf der Hand. Ich habe das als dezente Verbeugung vor zwei Pionieren der Kunstform interpretiert, was diesem Büchlein zusätzlichen Charme gibt.

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