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Das Auge liest mit. Zum fünften Mal kürt der Tagesspiegel die besten Comics des Jahres.

© Illustration: Kachaev Valeriy / Studiostoks / Fotolia

Comic-Bestenliste: Die besten Comics 2016 – Andrea Heinzes Favoriten

Welches sind die besten Comics des zu Ende gehenden Jahres? Das wollen wir von unseren Lesern und von einer Fachjury wissen. Heute: Die Top-5-Titel von Kulturjournalistin Andrea Heinze.

Auch in diesem Jahr fragen wir unsere Leserinnen und Leser wieder, welches für sie die besten Comics der vergangenen zwölf Monate waren. Parallel dazu war wie bereits in den vergangenen Jahren wieder eine Fachjury gefragt worden. Der gehören in diesem Jahr an:
Barbara Buchholz, Kulturjournalistin (www.bbuchholz.de)
Gesine Claus, Comic-Fachhändlerin (Strips & Stories, Hamburg)
Andrea Heinze, Kulturjournalistin (kulturradio vom rbb, BR, SWR Deutschlandfunk, MDR)
Lars von Törne, Tagesspiegel-Redakteur (www.tagesspiegel.de/comics)
Micha Wießler, Comic-Fachhändler (Modern Graphics, Berlin)
Frank Wochatz, Comic-Fachhändler (Comics & Graphics, Berlin)

Die Mitglieder der Jury küren derzeit ihre fünf persönlichen Top-Comics des Jahres, die in den bis dahin vergangenen zwölf Monaten auf Deutsch erschienen sind. Diese Favoritenlisten veröffentlichen wir sukzessive auf den Tagesspiegel-Comicseiten. Jeder individuelle Favorit wird von den Jurymitgliedern mit Punkten von 5 (Favorit) bis 1 (fünftbester Comic) beurteilt. Daraus ergibt sich dann die Shortlist, auf der alle Titel mit mindestens fünf Punkten landeten. Diese Shortlist wird abschließend von allen neun Jurymitgliedern erneut mit Punkten bewertet - daraus ergibt sich die Rangfolge der besten Comics des Jahres, die am 24. November bekannt gegeben wird.

Andrea Heinze.
Andrea Heinze.

© Privat

Hier dokumentieren wir die Favoriten von Kulturjournalistin Andrea Heinze (kulturradio vom rbb, BR, SWR Deutschlandfunk, MDR):

Platz 5:
"Junker" von Simon Spruyt
Dass sich ausgerechnet ein Flame dem Zerfall von preußischem Kaiserreich mitsamt seiner Gesellschaft widmet, ist schon ziemlich schräg. Und Simon Spruyt macht das so lakonisch, dass daraus ein kunstvoll verschachtelter Blues um einen Adelsspross wird, dessen Familie ihre beste Zeit längst hinter sich hat. Preußische Tugenden leben da genauso wieder auf wie die Literatur von Thomas Mann bis Joseph Roth. So richtig gut wird der Comic aber vor allem, weil Spruyt austestet, was passiert, wenn die Geschichte, die sich eine Gesellschaft gibt, nicht mehr mit der Realität übereinstimmt. Immer wieder driften der Erzählertext und die Zeichnungen auseinander. Spruyt zeichnet so in „Junker“ das Sittengemälde einer verkrusteten Gesellschaft, kurz bevor sie zusammen bricht.

Platz 4:
"Descender" von Jeff Lemire und Dustin Nguyen Nguyen
Können Roboter so menschlich sein, dass Ihnen vor dem Gesetz die gleichen Rechte zustehen, wie uns Menschen? Und was passiert, wenn man – aus Ignoranz oder auch aus Angst – einer Gruppe der Gesellschaft konsequent schlechtere Chancen gibt? Jeff Lemire und Dustin Nguyen Nguyen verhandeln in ihrer Science-Fiction-Odyssee um den Roboterjungen Tim 21 ziemlich universelle und zugleich zeitgemäße Fragen und lassen es dabei mächtig krachen – furiose Explosionen und wilde Verfolgungsjagden inbegriffen. Grandios an „Descender“ sind aber nicht nur die Mischung aus Tiefgang und Action, sondern auch die Bilder. Dustin Nguyen hat das Spektakel in Aquarellfarben gemalt und damit eine ebenso stimmungsvoll leichte wie wuchtige Bilderwelt geschaffen.

Platz 3:
"Madgermanes" von Birgit Weyhe
Was bedeutet Heimat? Welche Gefühle sind damit verbunden, welche Erinnerungen? In einfachen, fast emblematischen Bildern erzählt Birgit Weyhe die Geschichte der knapp 20.000 Vertragsarbeiter aus Mozambique, die in der DDR gearbeitet haben. Weyhe hat dafür mit vielen dieser Arbeiter gesprochen und verdichtet die Erzählungen auf vier Figuren, deren Erzählungen sie so geschickt verwebt, dass die Geschichte ungeheuer spannend wird. Es geht um die Erwartungen und Hoffnungen der Arbeiter, darum, dass sie um einen großen Teil ihres Lohns geprellt wurden. Es geht um Ausländerfeindlichkeit – und darum, wie man es sich schön machen kann, wenn um einen herum alles fremd ist. Das ist sehr berührend. Und zwar auch deshalb, weil Birgit Weyhe es schafft, das Gefühl der Fremdheit als eine universelle Erfahrung zu beschreiben, die alle Menschen kennen.

Das hier sind die beiden Top-Titel von Andrea Heinze

Platz 2:
"The Artist" von Anna Haifisch
„The Artist“ ist für alle, die den Kunstbetrieb lieben – und für alle, die vom Kunstbetrieb einfach nur abgeturnt sind, weil es da von aufmerksamkeitsheischenden Egozentrikern wimmelt, die Marktmechanismen kennen und brav bedienen – und zugleich von den künstlerischen Moden angeödet sind. „The Artist“ beinhaltet alles, was das Künstlerleben ausmacht, inklusive sämtlicher Klischees. Das liest sich großartig, weil die gerade mal 30-jährige Anna Haifisch wunderbar respektlos aus der Innensicht der Kunstszene schreibt. Und weil sie ebenso eigene wie abgewrackte Bilder für ihre kurzen Geschichten findet - die immer auch eine Achtsamkeitsübung gegenüber der von Selbstzweifeln geschundenen Künstlerseele ist. Großartig.

Platz 1:
"Arsene Schrauwen" von Olivier Schrauwen
Das ist schon ziemlich unverfroren, wie Olivier Schrauwen seinen Großvater Arséne durch die Geschichte stolpern lässt: ein junger Mann, der schon auf dem Weg in die belgische Kolonie von den wissenden Prahlereien der Mitreisenden ganz verwirrt ist. Der sich nicht traut, seinen ihm zugeteilten Boy anzusprechen. Der eine wichtige Expedition in den Dschungel gnadenlos in den Sand setzt und sich zu allem Überfluss auch noch in die Frau seines Cousins verliebt. Spätestens bei den unerhört intimen Sexszenen ahnt man, dass dieser Comic eher den Fantasien des Künstlers entspringt als den Erzählungen von dessen Großvater. Olivier Schrauwen inszeniert das Gefühl der Fremdheit im afrikanischen Dschungel als lüsternes Sinnesspektakel und analysiert zugleich die koloniale Gesellschaft – bei der selbst die größten Waschlappen als Gewinner hervorgehen, solange sie weiß sind. Dass der Comic trotzdem nie eindeutig wird, sondern viel Raum für Interpretationen lässt ist eine seiner großen Stärken. Und dann sind viele der Seiten so schön gezeichnet, dass man sie sich am liebsten rahmen und an die Wand hängen möchte.

Andrea Heinze

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