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Was würden Sie empfehlen? Das fragen wir unsere Leser und eine Fachjury derzeit unter www.tagesspiegel.de/comics.

© Foto (Internationaler Comic-Salon): Lars von Törne

Comic-Bestenliste: Die besten Comics 2017 – Andrea Heinzes Favoriten

Welches sind die besten Comics des Jahres? Das fragen wir unsere Leser und eine Fachjury. Heute: Die Top-5 von Kulturjournalistin Andrea Heinze.

Auch in diesem Jahr haben wir unsere Leserinnen und Leser wieder gefragt, welches für sie die besten Comics der vergangenen zwölf Monate waren - hier die Ergebnisse. Parallel dazu ist wie bereits in den vergangenen Jahren wieder eine Fachjury gefragt. Der gehören an:
Barbara Buchholz, Kulturjournalistin (www.bbuchholz.de)
Gesine Claus, Comic-Fachhändlerin (Strips & Stories, Hamburg)
Andrea Heinze, Kulturjournalistin (kulturradio vom rbb, BR, SWR Deutschlandfunk, MDR)
Micha Wießler, Comic-Fachhändler (Modern Graphics, Berlin)
Frank Wochatz, Comic-Fachhändler (Comics & Graphics, Berlin)
Lars von Törne, Tagesspiegel-Redakteur (www.tagesspiegel.de/comics)

Die Mitglieder der Jury küren derzeit ihre fünf persönlichen Top-Comics des Jahres, die in den vergangenen zwölf Monaten auf Deutsch erschienen sind. Diese Favoritenlisten veröffentlichen wir sukzessive in den kommenden Tagen auf den Tagesspiegel-Comicseiten. Jeder individuelle Favorit wird von den Jurymitgliedern mit Punkten von 5 (Favorit) bis 1 (fünftbester Comic) beurteilt. Daraus ergibt sich dann die Shortlist, auf der alle Titel mit mindestens fünf Punkten landeten. Diese Shortlist wird abschließend von allen neun Jurymitgliedern erneut mit Punkten bewertet - daraus ergibt sich die Rangfolge der besten Comics des Jahres, die am 21. Dezember bekannt gegeben wird.

Andrea Heinze.
Andrea Heinze.

© Privat

Hier dokumentieren wir die Favoriten von Kulturjournalistin Andrea Heinze (kulturradio vom rbb, BR, SWR Deutschlandfunk, MDR):

Platz 5: „Der Ursprung der Welt“ von Liv Strömquist
„Der Ursprung der Welt“ ist Biologiebuch, Geschichtswerk, politisches Manifest - und eine Dokumentation über die Scham, die Frauen auch heute noch vielfach wegen ihrer Vulva empfinden. Die gesammelten Gefühlslagen und Fakten präsentiert Liv Strömquist in einem unglaublichen Stilmix und kommentiert selbst die absurdesten Zuschreibungen an das weibliche Geschlecht mit trockenem Humor. Dieser Humor ist auch deshalb großartig, weil Strömquist zeigt, wie Jahrhunderte alte Zuschreibungen bis heute nachwirken. Darüber sollte man einfach nur lachen können.

Platz 4: „Unlucky young men“ Bd. 1 + 2 von Eiji Otsuka, Kamui Fujiwara
Die japanische Studentenrevolte, ein Raubüberfalll und der junge Kinostar Takeshi Kitano in einer Hauptrolle - Autor Eiji Otsuka verwebt geschickt Zeitgeschichte und Fiktion zu einer Hommage an Kino und Musik der 1960er Jahre. Dazu gibt es Lyrik von Takuboku Ishikawa. Allein dieses hartgesotten-melancholische Gewebe macht den Manga lesenswert. Die atemberaubend präzise gezeichneten schwarz-weiß-Bilder tun ihr Übriges: Eine Langspielplatte etwa sieht mit ihren glänzenden Rillen so täuschend echt aus, dass man Sorge hat, sie könnte beim Umblättern Kratzer bekommen. Und dann erzeugt Zeichner Kamui Fujiwara enge Räume, die sich ganz leicht wölben. Das sieht man weniger, sondern spürt eher ein Unbehagen, das die jungen japanischen Wilden durch den ganzen Manga begleitet. „Unlucky Young Men“ ist große Mangakunst.

Platz 3: „Nick Cave“ von Reinhard Kleist
Caves Lebensereignisse werden in dieser Comicbiografie nicht einfach brav in zeitlicher Reihenfolge arrangiert, sondern von Reinhard Kleist auseinander genommen, immer wieder neu aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt und mit illustrierten Songtexten und der ein oder anderen biografischen Erfindung versehen. So entsteht ein dichtes und verschachteltes Gewebe von Caves Leben wie es war – oder hätte sein können. Das ist spannend zu lesen und auch passend, weil Nick Cave seine Biografie selbst auch immer wieder verschleiert und an seinem Mythos strickt. Und ganz nebenbei setzt Kleist mit seinem Comic auch dem West-Berlin der 80er Jahre ein Denkmal – mit Bildern vom Ku´damm, Tegel und den autonomen Partys in Kreuzberg.

Das hier sind die beiden Top-Titel von Andrea Heinze

Platz 2: „Brodecks Bericht“ von Manu Larcenet
Nur wenige Comickünstler schaffen es wie Manu Larcenet, mit nur wenigen Panels ganze Gefühlswelten zu vermitteln. In der Literaturadaption „Brodecks Bericht“ wird schon auf der ersten Seite klar, wie isoliert die Menschen in dieser Geschichte sind. Selbst die, die in der Menge stehen, wirken verlassen – diese Menschen sind allein durch ihre Schuld, und jede ihrer Rechtfertigungen lässt sie noch mehr allein sein. Das zieht sich durch das ganze Buch. Der Holocaust dient in „Brodecks Bericht“ als Folie für einen Mord, den eine französische Dorfgemeinschaft nach dem Krieg an einem Fremden verübt. In dem Comic geht es um Mitläufer und Massenhysterie, also um all das, was den Holocaust möglich gemacht hat - und was mit dem Ende des Nationalsozialismus längst nicht vorbei ist, wie der Mord im Wirtshaus zeigt.

Platz 1: „Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“ von Ulli Lust
Ulli Lust hat in dem zweiten Teil ihrer Comic-Autobiografie Erotik aus weiblicher Perspektive gezeichnet. Das ist schon deshalb besonders, weil es dafür in der westlichen Welt – anders als zum Beispiel im japanischen Manga – überhaupt keine Tradition gibt. Die Bilder, die sie für ihre Lust findet, sind kraftvoll, ungewohnt und mutig. Allein deshalb gebührt „Wie ich versuchte ein guter Mensch zu sein“ der Titel bester Comics des Jahres. Und der hat eine ausgezeichnet erzählte Geschichte. Ulli Lust zeigt neben all der Erotik auch die Probleme, die eine offene Dreierbeziehung mit sich bringen kann. Eifersucht gipfelt hier in Brutalität. Und es ist gar nicht so leicht, da raus zu finden, weil Erotik mitunter einen starken Sog entwickeln kann.

Andrea Heinze

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