zum Hauptinhalt
Pionierin. Burcu Türker vor Skizzen und Aquarellen in der Atelierwohnung in der Cité des Arts Paris.

© Burcu Türker

Berliner Comicstipendium: Im Bauch von Paris

Seit gut 20 Jahren unterhält Berlin für seine Künstler eine Atelierwohnung in Paris. Seit Kurzem steht sie auch Comiczeichnern offen. Ein Hausbesuch

Die gelbe Weste hängt griffbereit gleich neben der Haustür. Die gehört in diesen Tagen in Paris einfach dazu. Auch auf den kleinformatigen Aquarellen an der Pinnwand von Burcu Türkers Atelier findet sich das Symbol der französischen Straßenproteste wieder.

Auf einem Bild, das die Berliner Künstlerin kürzlich zu Papier gebracht hat, ist das mit Brettern verbarrikadierte Schaufenster einer Apotheke zu sehen, in dem eine gelbe Weise als Zeichen der Sympathie für die Protestierenden hängt. Auf dem anderen ein Kiosk mit dem riesigen Titelbild einer französischen Wochenzeitung, die den Zusammenstoß eines Polizisten und eines Protestierers zeigt.

„Meine Arbeiten sind hier politischer geworden als erwartet“, sagt Burcu Türker, während sie den Besucher durch die kleine Atelierwohnung führt. Zwei große Schreib- und Zeichentische mit Blick auf einen grauen Hinterhof mit abgeblätterten Fassaden, eine Pinnwand mit Dutzenden Aquarellen, Kreidezeichnungen, Öl- und Pastellbildern, Skizzen, Bleistiftzeichnungen, in der Ecke ein Bett, ein Vorraum und eine kleine Küche: So sieht sie aus, die Berliner Künstlerwohnung in Paris.

Untergrundbewegung. Die Protagonistin von Türkers Paris-Comic ist Sprayerin.
Untergrundbewegung. Die Protagonistin von Türkers Paris-Comic ist Sprayerin.

© Zeichnung: Burcu Türker

Die Kathedrale Notre Dame ist gleich um die Ecke

Seit gut 20 Jahren unterhält die Senatsverwaltung für Kultur das Atelier Nummer 2231 in der verschachtelten Künstlerwohnanlage Cité des Arts Paris, einem von einer französischen Stiftung getragenen Refugium für bis zu 300 Maler, Musiker, Bildhauer, Sänger und Designer in bester Innenstadtlage direkt an der Seine. Die meisten wichtigen Museen und Touristenattraktionen wie die Kathedrale Notre Dame sind gleich um die Ecke.

Und auch manche der Brennpunkte, an denen die aktuellen sozialen Konflikte ausgetragen werden. „Hier war vor Kurzem alles dicht“, erzählt Burcu Türker später beim Spaziergang durch das Viertel rund um ihre Wohnung. Auf der einen Seite mit Tränengas- und Gummigeschoss-Waffen ausgerüstete Polizisten, auf der anderen Seite eine bunte Mischung von Demonstranten gegen die Macron-Regierung und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, deren Erkennungszeichen die leuchtende Warnweste geworden ist. Und dazwischen Burcu Türker und ihr Freund, ein aus Frankreich stammender Illustrator.

Die „Gilets jaunes“ ziehen sich als ein Hintergrund-Motiv durch die Comicerzählung, an der Burcu Türker derzeit arbeitet. Eigentlich leben sie und ihr Freund in Neukölln, hierzulande hat sie sich mit kunstvollen Comicerzählungen wie dem autobiografischen Buch „Süße Zitronen“ über das Verhältnis zu ihrer Mutter profiliert.

Derzeit arbeitet die 34-Jährige für sechs Monate in der Berliner Künstlerwohnung in Paris – als erste Comiczeichnerin überhaupt. Im vergangenen Jahr hatte sie das vom Senat erstmals ausgeschriebene, mit 15 000 Euro dotierte Comicstipendium Berlins für diesen Atelieraufenthalt gewonnen, in dessen Jury auch der Autor dieses Artikels saß.

Stadt der Künstler: Bis vor kurzem war der vom Senat geförderte Aufenthalt in der Cité des Arts bildenden Künstlern, Schriftstellern und Tanzkünstlern vorbehalten.
Stadt der Künstler: Bis vor kurzem war der vom Senat geförderte Aufenthalt in der Cité des Arts bildenden Künstlern, Schriftstellern und Tanzkünstlern vorbehalten.

© Lars von Törne

Viele der Bilder und Ideen für ihren Comic, von dem bereits rund 90 Seiten vorgezeichnet sind, findet sie direkt auf der Straße, erzählt Burcu Türker beim Stadtspaziergang. Und manchmal auch eine Etage tiefer: Die Katakomben von Paris, das städtische Beinhaus mit den Knochen von Millionen toten Parisern aus früheren Jahrhunderten, ist der Arbeitsplatz von Burcu Türkers noch namenloser Protagonistin.

Die hütet tagsüber die Totenköpfe, die vor allem viele Touristen anlocken – und nachts zieht sie als Sprayerin durch die U-Bahnhöfe, wo sie sich als Street-Art-Künstlerin auslebt. Einige fast fertige Seiten an der Atelier-Pinnwand geben einen ersten Eindruck davon.

„Die Leute verlieren wegen der Gummigeschosse ihre Augen“

Auch das Musée de la Magie, nur ein paar Ecken von Türkers Atelier entfernt, wird eine Rolle spielen. Ebenso die prunkvollen Antiquitätenläden ein paar Ecken weiter mit den ausgestopften Tieren, deren astronomische Preise einen scharfen Kontrast bilden zur Armut und den Existenzängsten vieler schlecht verdienender Franzosen.

Und immer wieder die Pariser Tierwelt, der Burcu Türker vor ihrer Haustür begegnet: Die Ratten vom Ufer der Seine, deren Zahl die der menschlichen Bewohner von Paris angeblich längst übersteigt, ebenso wie die Tauben von Notre Dame.

Als Burcu Türker im Dezember in Paris ankam, hatte sie kaum mehr als ein grobes Konzept im Kopf. Enge und Weite im Zusammenleben in einer der dichtbesiedeltsten Großstädte Europas sowie die die sich daraus ergebenden Kontraste, das sollten ihre Themen werden. Nun haben auch die sozialen Konflikte, die sich seit vergangenem Herbst in Paris und ganz Frankreich in den Gelbwesten-Protesten entladen, ihren Weg in Türkers Bilder gefunden.

Hinterhöfe wie in Berlin: Burcu Türker vor dem Aufgang zu ihrer Künstlerwohnung.
Hinterhöfe wie in Berlin: Burcu Türker vor dem Aufgang zu ihrer Künstlerwohnung.

© Lars von Törne

„Die gehören einfach dazu“, sagt Burcu Türker. Und auch wenn die Protestbewegung nach wie vor sehr uneinheitlich ist und unterschiedlichste politische Gruppen und Ausrichtungen umfasst, sieht Türker die Bewegung als eine Auseinandersetzung, die auch zu ihrem Thema von Enge und Weite passt: „Die Leute fühlen sich eingeschränkt, haben zu wenig Möglichkeiten, zu wenig Geld – das führt zu Wut, Verzweiflung, einem Kampf gegen die Beschränkungen ihrer Möglichkeiten“, fasst die Künstlerin später bei einem Tee in ihrer kleinen Küche ihre Beobachtungen zusammen.

Bei ihren Demonstrationsbesuchen habe sie besonders die Brutalität der Polizei schockiert, sagt sie: „Die Leute verlieren wegen der Gummigeschosse ihre Augen, und dann diese martialischen Uniformen…“

Auch das hat sie in Bildern verarbeitet: Eine Gruppe von Aquarellen an der Pinnwand hat sie „Teargas Collection“ genannt. Blaue Tränengaswolken ziehen darauf an einem Kiosk und am Arc de Triomphe vorbei. Daneben gibt es aber auch freundlichere Szenen aus ihrer vorübergehenden Heimat, Beobachtungen aus der Metro, Menschenmassen – und immer wieder Bilder zu kulinarischen Themen. „Essen ist enorm wichtig hier“, hat Burcu Türker beobachtet. Aquarelle von Austern, Sandwiches, Macarons und anderen Lebensmitteln dokumentieren auch diesen Teil der französischen Kultur.

Beim Hinausgehen aus Burcu Türkers Atelierwohnung fällt ein letzter Blick auf die gelbe Weste. Hat sie die eigentlich bei den jüngsten Demonstrationen angezogen, die sie sich angeschaut hat? „Nein“, sagt Burcu Türker und lacht. „Die ist nur zum Fahrradfahren.“

Tränengas-Wolken: Eine Alltagsbeobachtung nach einer Demonstration.
Tränengas-Wolken: Eine Alltagsbeobachtung nach einer Demonstration.

© Illustration: Burcu Türker

DIE ATELIERWOHNUNG
Seit Ende 1997 entsendet Berlin Künstler an die Seine, die jeweils sechs Monate in der dortigen Atelierwohnung in der Cité des Arts leben und arbeiten. Der Vertrag läuft nach Angaben der Kulturverwaltung noch bis 2060. Das Wohnatelier wird von französischer Seite gestellt, Berlin zahlt lediglich einen Beitrag zu den laufenden Kosten. Im Landeshaushalt sind die Kosten für die Wohnung mit jährlich rund 6500 Euro eingeplant.

DIE KÜNSTLER
Bis 2017/18 gab es vom Senat zwei Stipendien à sechs Monate in Bildender Kunst, Literatur und Tanz. Seit 2018/19 ist es jeweils ein Stipendium für die genannten Kunstsparten (Mai bis Oktober) und ein Stipendium für einen Künstler im Bereich Comic/Graphic Novel (November bis April) für je sechs Monate.

DIE BEDEUTUNG
„Die Berliner Kulturaustauschstipendien gehören zu den Förderprogrammen, die schon zu West-Berliner Zeiten Künstlerinnen und Künstlern ermöglichen sollten, ihre künstlerische Entwicklung möglichst unabhängig von Alltag und finanziellen Nöten voranzutreiben“, erklärt die Kulturverwaltung. Die Wohnung biete eine gute Ausgangsbasis für Künstler, die sich mit Paris auseinandersetzen möchten. Die meisten Bewerber für Paris hätten „mit der Stadt und der Kunst verknüpfte Fragestellungen, die sie vor Ort zu beantworten versuchen“.

Zur Startseite