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Straßenkämpferin. Eine Seite aus „Berlin“.

© Carlsen

„Berlin“ von Jason Lutes: Am Rande des Abgrunds

Der US-Comicautor Jason Lutes beendet nach 22 Jahren sein Opus Magnum „Berlin“ mit einem grandiosen Finale – und kommt zum Abschluss nach Deutschland.

Würde er es schaffen? Die Leser von Jason Lutes hatten in den vergangenen 22 Jahren manchen Grund daran zu zweifeln, dass der US-Autor und Zeichner seinen monumentalen Comic „Berlin“ wie angekündigt abschließen würde. Immer wieder gab es zwischen den einzelnen Heften der Reihe lange Pausen. Denn wie viele Comiczeichner musste sich Lutes größere Teile seines Lebensunterhaltes mit anderen Arbeiten verdienen, in seinem Fall als Dozent am Center for Cartoon Studies in Vermont.

Zudem hat Lutes im Verlauf seiner im Berlin der späten 1920er und frühen 1930er Jahre angesiedelten Erzählung Dutzende Figuren und Erzählstränge eingeführt, von denen man als Leser einige im Laufe der Jahre auch wieder aus den Augen verlor, sodass man sich kaum vorstellen konnte, wie er dieses Panoptikum der späten Weimarer Republik zu einem Ende bringen will.

Die letzten Wochen vor Hitlers Machtergreifung

Nun ist das letzte Kapitel erschienen, ein Sammelband vereint alle 600 schwarz-weiß getuschten Seiten in mit Hintergrundinformationen ergänzter Form (Carlsen, 46 €). Und es zeigt sich: Das Finale, in dem Lutes einen Großteil der Handlungsstränge zusammenzubringt und mit einem Blick in die Zukunft endet, ist grandios.

In den abschließenden Kapiteln, die auch als dritter Teil einer Taschenbuchausgabe vorliegen, lässt Lutes seine wichtigsten Figuren die letzten Wochen vor Hitlers Machtergreifung erleben.

Neben dem um Haltung ringenden linksliberalen Journalisten Kurt Severing und der zwischen verschiedenen Lebensentwürfen hin- und hergerissenen Künstlerin Marthe Müller wird zum Ende hin besonders die Figur der Silvia Braun interessant, einer Halbwaisen aus einer Arbeiterfamilie, in deren Biografie einige der zentralen Gegensätze jener Zeit zusammenstoßen: Der Vater Nazi, die von der Polizei getötete Mutter Kommunistin, findet sie vorübergehend Schutz bei der jüdischen Familie Schwartz. Doch nach einem Zerwürfnis entscheidet sie sich für das Leben und den antifaschistischen Kampf auf der Straße.

Kurz vor der Machtergreifung: Neben fiktiven Figuren lässt Lutes auch reale historische Akteure auftreten.
Kurz vor der Machtergreifung: Neben fiktiven Figuren lässt Lutes auch reale historische Akteure auftreten.

© Carlsen

Die Hauptfiguren sind, wie alle Charaktere bei Lutes, auf Grund von Fotos entstanden, die ihm bei seinen Studien in die Hände fielen, wie er dem Tagesspiegel zu Beginn des Projektes mal in einem Interview erzählt hat. So ähnelt die Figur der Marthe entfernt einem Foto von Käthe Kollwitz. Und Kurt Severing ist dem Porträt des Gründers der Zeitschrift „Weltbühne“, Siegfried Jacobsohn, nachempfunden.

Anhand dieser und weiterer zentraler Charaktere sowie der Personen, denen sie begegnen, gelingt es Lutes, exemplarisch die Widersprüche jener Zeit zu beschreiben. „Ich finde es hochinteressant, dass ein nennenswerter Teil der deutschen Gesellschaft in den Jahren vor 1933 ganz klar gegen Hitler eingestellt war, aber es trotzdem nicht schaffte, sich zusammenzuschließen“, hat er mal gesagt.

„Karl May der Comics“

Vor der akribisch recherchierten Kulisse Berlins führt Lutes vor Augen, wie individuelle Lebensläufe und politische Entwicklungen miteinander verknüpft waren. Angesichts der aktuellen Polarisierung der politischen Kultur lässt sich da beim Lesen auch manche Verbindung zur Gegenwart herstellen.

Ein doppelter Zufall will es, dass die schon aus sich selbst heraus starke Wirkung dieses Buch zum jetzigen Zeitpunkt noch verstärkt wird: Nach dem Riesenerfolg von „Babylon Berlin“ liest sich Lutes „Berlin“ fast wie eine Fortsetzung der Fernsehserie und ergänzt die dort geschilderte Welt um viele interessante Facetten und Figuren. Und angesichts der zunehmend polarisierten politischen Kultur im Deutschland des Jahres 2019 und dem Erstarken rechtsextremer Bewegungen erinnert dieses Buch daran, wohin es führen kann, wenn derartige Entwicklungen ungehindert ihren Weg nehmen.

Sinfonie der Großstadt: Das Cover der Gesamtausgabe.
Sinfonie der Großstadt: Das Cover der Gesamtausgabe.

© Carlsen

Dass Lutes Erzählung dabei manche nahe liegende Klischees nicht vermeiden kann, liegt wohl in der Natur der Sache. „Ich habe auf der Basis des historischen Materials mein eigenes Berlin entworfen“, hat er mal gesagt. Ein Kritiker bezeichnete ihn deswegen einmal als „Karl May der Comics“.

Zeichnerisch hat der Amerikaner seinen klaren, von europäischen Vorbildern wie Hergé (Tim und Struppi) geprägten Stil weiter verfeinert: Lutes beherrscht die Kunst der minimalen Variation, sodass seine Figuren trotz der Beschränkung auf wesentliche Bildinformation bis zum letzen Panel bemerkenswert lebendig wirken. Das 22-jährige Warten hat sich gelohnt.

Jason Lutes: Berlin, aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders, Textbearbeitung Michael Groenewald, Berlinerisch Lutz Göllner, Lettering Nico Hübsch, Gesamtausgabe mit zusätzlichem Hintergrundmaterial, Carlsen, 608 Seiten, 46 Euro. Die Reihe gibt es auch in drei Taschenbuch-Bänden zu je 14 Euro.

Veranstaltungshinweis: Ab Dienstag präsentiert Jason Lutes „Berlin“ auf einer Lesereise in Hamburg, Berlin, Hannover, Frankfurt, Köln, Stuttgart und Gießen:
Dienstag, 29. Januar: Gespräch und Lesung in Hamburg, Carlsen Verlag, Völckersstraße 14 – 20, 22765 Hamburg, Einlass: 19:30 Uhr, Beginn: 20:00 Uhr, Moderation: Korinna Hennig, Lesung: Matthias Wieland + Korinna Hennig, Eintritt: 5 Euro, Kartenreservierung: ticket@carlsen.de
Mittwoch, 30. Januar, Berlin: Signierstunde und Kurzinterview: Dussmann das Kulturkaufhaus, Friedrichstraße 90, 10117 Berlin, Beginn: 17:30 Uhr (bis 19:00 Uhr). Gespräch und Lesung: Bibliothek am Luisenbad, Badstraße 39, 13357 Berlin, Einlass: 20:00 Uhr, Beginn: 20:30 Uhr, Moderation: Andreas Borcholte, Lesung: Nina Weniger und Matthias Wieland, Eintritt: 5 Euro, in Kooperation mit Modern Graphics, Karten bei Modern Graphics und an der Abendkasse
Donnerstag, 31. Januar, Gespräch und Lesung in Hannover: Feinkost Lampe, Eleonorenstraße 18, 30449 Hannover, Einlass: 19:30 Uhr, Beginn: 20:00 Uhr, Moderation und Lesung: Matthias Wieland, Eintritt: 5 Euro, in Kooperation mit Comix Hannover
Freitag, 1. Februar, Frankfurt: Signierstunde: Terminal Entertainment T3, Große Eschenheimer Str. 41a, 60313 Frankfurt am Main, Beginn: 15:30 Uhr (bis 17:00 Uhr). Gespräch und Lesung: Bildungsstätte Anne Frank, Hansaallee 150, 60320 Frankfurt am Main, Einlass: 19:30 Uhr, Beginn: 20:00 Uhr, Moderation und Lesung: Jakob Hoffmann, Eintritt: 5 Euro / erm. 3 Euro
Montag, 4. Februar, Gespräch und Lesung in Stuttgart: Stadtbibliothek Stuttgart, Lese-Cafe, Mailänder Platz 1, 70173 Stuttgart, Beginn: 19:30 Uhr, Moderation: Björn Springorum, Eintritt: 5 Euro / erm. 3 Euro. Kartenvorverkauf: karten.stadtbibliothek@stuttgart.de, Tel. 0711 216-91100
Dienstag, 5. Februar, Gespräch und Lesung in Köln: Literaturhaus Köln, Großer Griechenmarkt 39, 50676 Köln, Einlass: 18:30 Uhr, Beginn: 19:30 Uhr, Moderation: Kristian Lutze, Eintritt: tba.
Kartenvorverkauf: www.literaturhaus-koeln.de
Mittwoch, 6. Februar, Gespräch und Lesung in Gießen: KiZ (Kongresshalle), Südanlage 3a, 35390 Gießen, Einlass: 19:00 Uhr, Beginn: 19:30 Uhr, Moderation: Martin Spies, Lesung: Matthias Wieland, Eintritt: 5 Euro / erm. 3 Euro, in Kooperation mit dem Literarischen Zentrum Gießen, Kartenvorverkauf: über die Tourist Info Gießen (Schulstr. 4, 35390 Gießen)

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