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Stilwechsel von Panel zu Panel: Eine Szene aus „Prisma“.

© Edition Moderne

Avantgarde-Comic „Prisma“: Leuchtend bunte Albträume

Der britische Zeichner Joe Kessler lotet mit seinem in Angoulême ausgezeichneten Band „Prisma“ die Möglichkeiten der Kunstform Comic neu aus.

Ein junger Mann sucht seinen Vermieter auf, um ihm mitzuteilen, dass die Farbe von seiner Eingangstür abblättert und er daher Geld für einen Eimer Farbe benötigt. Erst einmal keine ungewöhnliche Begebenheit. Dass sich aus solch einer Alltagssituation im Folgenden eine absolut abenteuerlich-skurrile Geschichte entspinnt, lässt sich an dieser Stelle noch nicht ahnen.

Denn eben jener Vermieter, der in Unterhose und Morgenmantel zunächst recht harmlos daherkommt, stellt sich später als Zauberer heraus, der die beiden mittels Feuertrick an den Strand einer prachtvoll grünen Insel katapultiert. Um ein Naturerlebnis soll es dabei weniger gehen. Vielmehr ist das Ziel des Unterfangens, das Geld für den Farbeimer zu beschaffen.

Eine weitere Szene aus „Prisma“.
Eine weitere Szene aus „Prisma“.

© Edition Moderne

Immer wieder führen die Ereignisse in der Geschichte zu irrwitzigen, unerwarteten Wendungen, die sich zwischen einer fiktiven Realität und einer surrealen Traum- und Märchenwelt bewegen. Was in das Erzählgeschehen hineingegeben wird, führt in eine ganz andere Richtung, die nicht vorherzusehen war. Eben wie ein Prisma, das das hereinströmende Licht bricht und mit den herauskommenden farbigen Lichtstrahlen in etwas völlig Neues verwandelt.

Dass der britische Comiczeichner Joe Kessler seinem Band mit den vier Geschichten den Titel „Prisma“ (aus dem Englischen von Christoph Schuler, Edition Moderne, 272 S., 24 €) gegeben hat, ist in diesem Sinne absolut passend. Denn bei aller Verschiedenheit eint sie doch diese eigentümliche Art des Erzählens. Für seinen besonderen Comic wurde der britische Künstler 2020 beim Comicfestival in Angoulême mit dem Preis für das beste Debüt ausgezeichnet.

Auf nichts ist in seinen Geschichten Verlass, das Unerwartbare wird zum alles bestimmenden Faktor, das sich logischen Handlungsfolgen verweigert. So verwandelt sich der besagte Zauberer, der seinem Mieter zunächst wohlgesonnen scheint, nach geglückter Mission erneut: Bei einer zufälligen Begegnung am Gartenzaun lobt dieser die neue Garderobe seines Mieters, wird dann aber urplötzlich zu einem bösen Riesen, der nach dem jungen Mann greift, um ihn kurz darauf im Meer zu versenken.

Die Besatzung eines großen Segelschiffs kann ihn gerade noch retten. Und weiter geht es danach in der Erzählung, die noch die ein oder andere kuriose Überraschung parat hat.

Ein Prozess wie bei Kafka

Kesslers skurrile und oft düstere Geschichten faszinieren. Auch deshalb, weil der Künstler vieles in der Schwebe lässt, manches nur andeutet und so eine geheimnisvolle Atmosphäre entstehen lässt. Dabei reduziert er Dialoge und Textpassagen auf ein Minimum.

Tag und Nacht: Eine Seite aus „Prisma“.
Tag und Nacht: Eine Seite aus „Prisma“.

© Edition Moderne

Ähnlich mysteriös ist auch eine andere Geschichte: Ein Mann soll versteckt werden, mehrere Menschen sind zunächst involviert und beraten über das weitere Vorgehen. Schließlich irrt der Mann aber allein draußen in der Natur umher. Eine junge Künstlerin findet ihn und bietet ihm ihr Haus als Versteck. Immer ist die Gefahr des Entdecktwerdens allgegenwärtig. Warum der Mann gesucht wird oder was er verbrochen hat, erfährt man nicht.

[„Prisma“ landete im vergangenen Quartal bei der Favoritenliste von 30 Comic-Kritiker*innen unter den Top-10-Titeln. Hier gibt es die ganze Liste.]

Zwischen beiden entwickelt sich derweil eine Liebesbeziehung – bis das Erzählgeschehen der scheinbar realen Ebene entrissen und in eine grausam-absurde, kafkaeske Sphäre überführt wird. Denn beide landen schließlich vor einem schaurigen Tribunal. Eine Art Richter, ein riesiges anthropomorphes Wesen mit gelbem Kopf und Knollnase, spricht das Urteil, das für ihn die Enthauptung vorsieht.

Auch die ihr zugedachte Strafe ist brutal: Die Hände sollen ihr abgehackt und die Augen ausgestochen werden. Dass die Künstlerin dafür vorher noch ein Behältnis bemalen soll, wirkt grotesk und verstörend. Ein Zwischenfall führt schließlich zumindest für sie eine vorteilhafte Wendung herbei.

Zwischen Albtraum, Fantasie und Realität

Nicht nur inhaltlich überrascht Kessler mit seinen Geschichten immer wieder. Der Titel des Bandes dürfte sich wohl auch auf die erstaunliche Wandelbarkeit seines künstlerischen Stils beziehen. In meist knalligen Farben macht er die Kunstform Comic zum Experiment und lotet dessen Möglichkeiten mit beinahe jedem Strich neu aus.

Das Titelbild von „Prisma“.
Das Titelbild von „Prisma“.

© Edition Moderne

Klare geometrische Formen stehen im Kontrast zu skizzenhaft angefertigten Naturimpressionen in prachtvollem Grün, domestizierte Architektur als Gegenstück zu ungebändigten Wäldern und Pflanzen. Mal wirkt sein Strich kräftig und grob, mal zart und fein, krakelig-verwackelt oder akkurat und geradlinig. Detail und Abstraktion wechseln sich ab oder vereinen sich im selben Panel.

An einigen Stellen beschränkt er sich auf die Umrisse, dann wieder fängt seine kräftig leuchtende Kolorierung den Blick ein.

[Der Schweizer Verlag Edition Moderne hat in jüngster Zeit mehreren künstlerisch besonders bemerkenswerte Comics veröffentlicht, hier gibt es weitere Tagesspiegel-Rezensionen dazu: Rendezvous in der Parallelwelt , Geburt, Tod und der ganze Wahnsinn dazwischen, Wie Moleküle im Raum.]

Düsteren, albtraumhaften Szenarien verleiht Kessler zuweilen eine eigenwillige Ästhetik. Wenn etwa ein Flugzeug vom Nachthimmel mehrere Bomben abwirft und diese über der dunklen Landschaft gelb-rote Feuerballen bilden, entsteht ein ausdrucksstarkes, fast schon abstraktes Bild, das eine besondere Stimmung transportiert.

Oder wenn die Grundmauern eines Hauses in Folge der Explosion zerbersten und sich alles in ein Gemisch aus kraftvollen Farben verwandelt. Auch in diesem Fall greifen mehrere Erzählebenen ineinander. Nicht ganz klar wird, ob die Bilder Albträumen und Fantasie des kleinen Mädchens entstammen, um das es in einer Geschichte geht. Oder ob es sich um das reale Erzählgeschehen handelt.

Wie in allen anderen Geschichten verwischen die Grenzen zwischen fiktiver Realität und skurrilen, grausamen oder kuriosen Traumwelten. Das stimmt nachdenklich oder verstört, aber es erheitert zuweilen auch.

Birte Förster

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